Mit einem spannenden Experiment eröffnete der scheidende Ballettdirektor des Bayerischen Staatsballetts Ivan Liska die diesjährigen Ballettfestwochen: Erstmals wurde ein neueres Stück von Pina Bausch an ein anderes Ensemble übertragen. Es ist keine schnelle Einstudierung, die da stattgefunden hat. 2014 hatten die ersten Arbeiten des Tanztheater Wuppertal mit Mitgliedern der Münchner Truppe begonnen, bis „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ am 2. April 2016 seine Premiere hatte.
Die Wuppertaler Tanztheater-Mitglieder, Ruth Amarante, Daphnis Kokkinos und Azusa Seyama hatten die Hauptverantwortung bei der Übertragung, doch alle 14 Tänzer der Uraufführung 2002 studierten ihren Part mit je zwei Münchner Tänzern ein. Schließlich sind sie es, die das Stück zusammen mit Pina Bausch seinerzeit entwickelt haben, ist es ihr kreativer Input, der der Choreografin das Material geliefert hat, sind es ihre persönlichen Geschichten, die sie, ästhetisch ge- und verformt, weitergeben. Noch nie hat ein derartiger Prozess stattgefunden. Überhaupt kann sich nur ein Ensemble bisher rühmen, Pina Bausch in seinem Repertoire zu haben: Mit dem Pariser Opernballett hat die Choreografin noch selbst „Le Sacre du printemps“ und „Orpehus und Eurydike“ einstudiert. Abstecher anderer Art waren die Einstudierungen von „Kontakthof“ mit Damen und Herren ab 60 und Jugendliche bis 14, beide Male mit Laiendarstellern. Abgesehen davon liegt die Werkpflege des Bauschschen Erbes ganz in den Händen des Tanztheater Wuppertal. Das ist langfristig kein nachhaltiges Modell und auch daher könnte der Weg, den die „Stiftung Pina Bausch“ mit der Übertragung eines Werkes auf das Bayerische Staatsballett gesetzt hat, durchaus zukunftsweisend sein.
Noch dazu, weil es so gut funktioniert hat, weil die Integrität der Arbeitsweise von Pina Bausch auch auf die „Neuen“ durchgeschlagen hat. Zwar mussten sie nicht selbst Antworten auf die Fragen finden, die die Choreografin seinerzeit ihren Tänzern im Kreationsprozess gestellt hat. Doch sie mussten diesen Prozess ebenso nachvollziehen, wie das Ergebnis, also die Schritte, die Texte, die formale Choreografie. Es ging auch darum, den Subtext zu begreifen. Das alles war Neuland für die klassisch ausgebildeten und versierten Tänzer. Ihre Stimme verwenden? Auf der Bühne sprechen? Einander nachjagen, anspringen oder umarmen wie ungelenke Halbwüchsige? Auf Rollbrettern dahinschlittern, Sandburgen bauen, auf dem Hintern rutschen, schlafen spielen … Das gehört nicht zum Repertoire von Staatsballetttänzern. „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ ist ein wunderbar verspieltes Werk. Es ist, als ob Kinder erwachsen spielen – oder Erwachsene sich in die Welt der Kinder versetzen. Es ist ein tanzintensives Stück. In die Szenencollage mischt sich eine Reihe von Soli, die die Tänzer von Anfang an als Protagonisten etablieren, egal ob es sich um die Erste Solisten, Solisten, Demi-Solisten oder Gruppentänzer handelt. Hierarchien sind aufgehoben, sie spielen keine Rolle mehr in diesem Reigen der eleganten Frauen in ihren farbenfrohen Kleidern und Männer in ihrem typischen Outfit aus Hose, Hemd und Sakko (Kostüme: Marion Cito).
Peter Papst zeichnet auch für dieses Stück für ein Bühnenbild verantwortlich, das Räume verschließt und öffnet. In der Mitte ein riesiges weißes Portal, das den Blick auf das schwarze Nichts der Hinterbühne freigibt. Auf der Seite jeweils eine Türöffnung für Auf- und Abtritte. Im zweiten Teil verschieben sich die Seiten- und Rückwände gegeneinander, bedrohlich rammen sie aneinander vorbei, schaffen neue Räume, setzten neue Grenzen. Und doch kann die Spannung im zweiten Teil nicht durchgehend gehalten werden – drei Stunden sind lange für Tänzer, die sich wie hier ein völlig neues Bewegungsrepertoire aneignen müssen. Doch gegen Ende reißen sie mit einer Reihe energetischer Kurzsoli das Ruder noch einmal herum und entlassen das Publikum mit einem „High“.
Auch in der zweiten Vorstellung, die ich gesehen habe, war der Publikumsjubel ungebrochen. (Eindrücke von der Premiere hat meine Kollegin Vesna Mlakar festgehalten.) Pina Bausch hat auch beim und mit dem Bayerischen Staatsballett überzeugt. Für beide – das traditionelle Ensemble und die Bewahrung des choreografischen Erbes ist dieses Experiment voll aufgegangen und es bleibt zu hoffen, dass es auch von anderen Ballettcompagnien aufgegriffen wird. Denn nur durch die Weitergabe an die nächste Tänzergeneration kann sicher gestellt werden, dass Pina Bausch’ geniale Arbeit weiterlebt. Leider nicht beim Bayerischen Staatsballett, denn der neue Ballettdirektor aber der nächsten Saison Igor Zelensky wird das Stück nicht im Repertoire behalten.
Bayerisches Staatsballett: „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ am 3. April 2016 im Nationaltheater München, Weitere Vorstellungen am 8. April, 10., 19., 23. Mai, 10., 27. und 29. Juni 2016