Im Rahmen der Münchner Ballettfestwochen stand die gelungene „Paquita“-Rekonstruktion nach Originalvorlagen von Petipas St. Petersburger Fassung zum letzten Mal auf dem Spielplan des Bayerischen Staatsballetts. Mit dieser farbenfrohen Inszenierung und sorgfältigen Einstudierung der Charaktertänze, der Pantomime und des großen Divertissements durch Alexei Ratmansky wird klar, warum das Ballett in Russland zu Ende des 19. Jahrhunderts einen solch hohen Stellenwert genoss.
Doch leider ereilt dieser gelungenen Umsetzung dasselbe Schicksal wie dem Pina Bausch-Stück: Der neue Ballettdirektor Igor Zelensky will es nicht mehr im Spielplan haben. Welch verlustreicher Direktorenwechsel, der auch mit einem rundum erneuerten Ensemble einhergeht – zwei Drittel der Tänzer werden laut Medienmeldungen ausgetauscht.
Doch zurück zu „Paquita“. Von diesem Ballett wird meist nur das große Divertissement im dritten Akt getanzt. Die ersten beiden Akte sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Vielleicht traut man der Pantomime heute nicht mehr den Unterhaltungswert zu, den sie einst hatte, vielleicht wird der Plot um die Zeit der spanischen Unabhängigkeitskriege von Frankreich in der Zeit Napoleons, als zu kompliziert erachtet. Wie auch immer: Ratmansky und sein Team beweisen, dass das als „Empire Ballet“ bezeichnete Werk auch heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat. Die Uraufführung fand 1846 in Paris in der Choreografie von Joseph Mazilier statt, auf der Petipa aufbaute und die er im Laufe der Aufführungsgeschichte immer wieder veränderte. Ratmansky bezieht sich auf die letzte Version aus dem Jahr 1892 für das Bolschoi-Theater in St. Petersburg.
Die Geschichte spielt auf politische Geschehnisse zu Beginn des 19. Jahrhundert an: Handlungsort ist das von französischen Truppen besetzte Tal der Stiere bei Saragossa. Der französische General d’Hervilly lässt für seinen ermordeten Bruder Comte d’Hervilly, der zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter Opfer eines Raubmord wurde, ein Mahnmal errichten, das nun unter Anwesenheit der örtlichen Honoratioren feierlich eröffnet wird. Bei der Einweihung verkündet der Kommandant die bevorstehende Hochzeit seines Sohnes Lucien mit Doña Serafina, der Tochter des spanischen Provinzgouverneurs Don Lopez de Mendoza – ein politisches Arrangement, das Lopez de Mendoza jedoch gar nicht gefällt. Doch als Untertan der Besatzungsmacht sieht er offenbar nur in der Ermordung Luciens einen Weg, die Heirat zu verhindern. Er beauftragt damit den Zigeuner Inigo, der mit seiner Tanzgruppe beim Festakt für Unterhaltung sorgen soll. Die Haupttänzerin ist Paquita, in die sich Lucien sofort leidenschaftlich verliebt. In ihr kommen an dem Ort des Attentats diffuse Kindheitserinnerungen hoch, doch das einzig Greifbare, das sie besitzt, ist ein Medaillon mit dem Bild eines Mannes. Paquita kann den geplanten Mord an Lucien verhindern, und das Komplott des Gouverneurs aufdecken. Beim Empfang im Hause des Generals erkennt sie auf einem Gemälde den Mann, der auf ihrem Medaillon abgebildet ist – das beweist, dass sie die Tochter des verstorbenen Grafen ist, die den Überfall überlebt hat. Nun steht einer Liaison zwischen dem vormaligen Zigeunermädchen mit Lucien nichts mehr im Wege.
Eine derart komplexe Handlung kann natürlich nur mittels einer differenzierten Pantomime erzählt werden und so haben in den ersten beiden Akten alle Hauptakteure außer Paquita rein pantomimische Rollen. Mit Hilfe der akribisch umgesetzten Gestik kann man der Geschichte gut folgen. Durch die Wiederholungen lernt der Zuschauer sogar eine neue „Sprache“, deren Bedeutung von Ekaterina Petina (Paquita), Matej Urban (Lucien) und Cyril Pierre (Inigo) sehr präzise in Szene gesetzt wird.
Das Ensemble brilliert dagegen in hinreißenden, Lokalkolorit versprühenden Charaktertänze, etwa dem Pas de manteaux, bei dem Frauen auch die männlichen Tanzpartner verkörpern oder den Pas de sept bohémiens. Der dritte Akt spielt im Festsaal des französischen Kommandanten in Saragossa und dort dominieren dementsprechend die Tänze der gehobenen Gesellschaft, etwa eine Contredanse française in zwei Formationen, bei denen die Tänzer nach Alter getrennt sind oder eine Gavotte. Besonders gelungen ist die Kindermazurka, die von den Schülern der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München präsentiert wird. Eine ziemlich komplexe Aufgabe für den Nachwuchs, der diese aber ebenso sauber wie freudig bewältigt.
Nachdem sich die Intrige also aufgeklärt und Paquita in ihren rechtmäßigen Stand anerkannt ist, wird mit einem Grand pas gefeiert. Jetzt erst darf auch der Held des Balletts, Lucien, sein tänzerisches Können zeigen. Ekaterina Petina tanzt sehr souverän und spielt die Rolle der Paquita mit sehr natürlichem, charmantem Flair. An ihrer Seite macht Matej Urban eine sehr gute Figur.
Ratmanskys Version für das Münchener Ensemble beruht auf der Stepanov Notation, auf Fotos und Beschreibungen, Dokumente, die in der Sergejew-Sammlung in der Harvard University zu finden sind. Sowohl bei den Charaktertänzen als auch bei den Divertissements sind die Tänzerinnen der Aufführungspraxis der damaligen Zeit verpflichtet. Das Resultat ist eine Eleganz, die heute sehr oft zu Gunsten einer zirzensischen Virtuosität geopfert wird. Jedenfalls werden hier die Arabequen im 90 Grad Winkel ausgeführt, bleibt die Hüfte in ihrer anatomisch natürlichen Stellung. Dennoch sind die Sprünge und Drehungen, die die Solisten absolvieren genauso kunstfertig wie wir es heute gewöhnt sind und durch die Zurückhaltung in der Ausführung vielleicht sogar noch spektakulärer. In den Variationen überzeugten an diesem Abend besonders Mai Kono, Luiza Bernardes Bertho, Alisa Scetinina und Marta Navarrete Villalba.
Jérôme Kaplan sorgte für die geschmackvollen Kostüme und das der Zeit nachempfundene Bühnenbild. Maria Babanina zeichnet für die musikalische Einrichtung der Kompositionen von Edouard-Marie-Ernest Deldevez, Ludwig Minkus und anderen verantwortlich – und sie klingt beim Bayerischen Staatsorchester unter der Stabführung von Myron Romanul durchwegs stimmig.
Alexei Ratmansky hat sich inzwischen schon andere Klassiker für eine originaltreue Inszenierung „vorgeknöpft“, zuletzt etwa den „Schwanensee“ in Zürich. Es bleibt zu hoffen, dass diese Beispiele weiterhin Schule machen.
Bayerisches Staatsballett: „Paquita“ am 5. April 2016 in der Staatsoper München im Rahmen der Ballettfestwochen. Die Ballettfestwochen 2016 beiten noch bis18. April ein abwechslungsreiches Programm.