Wer kennt sie nicht, die Enge der Familie, die einen umfängt, sobald man ins Elternhaus zurückkehrt. Herr und Frau Werner, er nennt sie „Werner Zwei“, haben sich in einem penibel vor der feindlichen Außenwelt abgedichten Karton eingerichtet. Nur hinter einem „Werner-Wappen“ verbirgt sich ein Guckloch, von dem aus man die Nachbarn ausrichtet. Yade Yasemine Önders Theaterstück „Kartonage“ ist, nach seiner schwarzhumorigen Uraufführung durch Franz-Xaver Mayr im Juni bei den Autorentheatertagen in Berlin, nun an seinen Produktionsort, im Burgtheater Kasino, gelandet.
Brutale Eherituale. Werner Zwei - Petra Morzé mit gelb-blonder Frisur - dirigiert mit Ohrfeigen, Auf-Den-Tisch-Trommeln und Marmeladebroten ihren schon sehr maroden Gatten, der sich durchs Guckloch besonders an den jungen Frauen in der Nachbarschaft ereifert. Bernd Birkhahn lässt den Tattergreis mit Rechtsdrall und Hüftleiden zielstrebig durch den Raum steuern. Ob im Stehen oder Sitzen, sein Mund öffnet sich - und er schnarcht.
Weibliches Bonnie & Clyde-Paar. Bilder aus Rosalies (Irina Sulaver) Jugend, der Tochter des Hauses, poppen in Videosequenzen oberhalb der Bühne auf: Sie zeigen die damals Sechzehnjährige mit ihrer Freundin Ella (Marta Kizyma) - eine Art kleinkriminelles Bonnie&Clyde-Paar, das gemeinsam auf Diebestour geht. In einem alten Peugeot 306, den sie ein paar Burschen entwendet haben, wagen sie die lang ersehnte Flucht. Nicht ohne zuvor auf den Rücksitzen mit den Burschen Experimente mit „Zungen und Schoß“ erlebt zu haben. An der Tankstelle lassen sie die Verdatterten zurück und rasen mit dem Auto davon. Ein Unfall – bei dem Ella tödlich verletzt wird - setzt der Flucht ein Ende. „Was weiß ich denn, was ich als Kind gemacht hab?“, kommentiert Rosalie das Geschehen, bevor es sie, Jahre später, in ihr Elternhaus zurückkatapultiert. Sie bringt dadurch das eingespielte Gefüge der Altvorderen aus den Bahnen, gerade zu einem Zeitpunkt, als „Werner Eins“ wieder zaghaft Sehnsucht nach der Welt draußen entwickelt. Rosalie versucht der Hölle zu entkommen, aber Mutters bittersüße Marmelade zeigt ihre Wirkung.
Psychologisch betrachtet könnte das Stück bedeuten, wer einmal eingemauert in der Hölle der eigenen Familie ist - aus Angst vor der feindlichen Welt - entkommt nicht mehr. Das mag im realen Leben eine schaurige Vorstellung sein, am Theater jedoch, mit großer Lust zelebriert, kann es auch kathartisches Erkennen bedeuten - neben dem Vergnügen.
„Kartonage“ von Yade Yasemin Önder, Regie: Franz-Xaver Mayr, im Kasino/Burgtheater. Weitere Vorstellungen: www.burgtheater.at