Eine Familienparty mit hohen Erwartungen? Dramaturgisch hatte sich Karl Alfred Schreiner für seine Neuchoreografie des vor 125 Jahren in St. Petersburg uraufgeführten „Nussknacker“ die Geschichte einer Teenagerliebe zurechtgelegt. Seine Klara, am Premierenabend interpretiert von der munter aufgelegten Spanierin Anna Calvo, erwacht am Weihnachtsmorgen in ihrer überdimensionalen Nussschale noch als Kind.
Doch die gespreizten Armwindungen der Mutter über ihrem Nachtlager signalisieren: Hier ringt jemand darum, die bestimmende Oberhand zu behalten. Rita Barão Soares mimt ausdrucksstark diese Sorge, das Töchterchen könnte sich ihrem Beschützerinstinkt entziehen.
Das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz hat Tanzchef Schreiner – stark von der Bildhaftigkeit der Partitur inspiriert – auf ein sonderbares Pflaster geführt. Seine Figuren bewegen sich in einem Ambiente zwischen trautem Heim und einer Art Varietébühne. Die recht massive Ausstattung stammt vom Stuttgarter Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic. Wer hinein will ins altmodisch-holzvertäfelte Wohnzimmer von Mutter und Tochter Stahlbaum, muss durch einen zirkusroten Vorhang schlüpfen.
Schreiners „Nussknacker“-Welt entpuppt sich schnell als höchst ambivalent. Nicht nur delegiert die besorgte Mama alle Zärtlichkeiten ans erotisch-liebestoll ganz dem Butler verfallene Hausmädchen. Anstelle der traditionell auf Spitzenschuhen über die Bühne wirbelnden Zuckerfee kurven Verónica Segovia und Thomas Martino immer wieder als virtuoses Knutschpaar auf rollendem Servierwagen durch die Szenerie. Für ihre Einlagen – u.a. mit Männerbeinen in Strapsen (Kostüme: Ariane Isabell Unfried) – mögen ältere Jahrgänge im Publikum weit mehr zu begeistern sein als Kinderaugen.
Warum bloß dürfen die zwei Bediensteten ausschweifend tun, was die emotional verkorkste Gastgeberin inmitten des Festtrubels an Heilig Abend bei Klara und Droßelmeiers feschem Sohn (David Cahier: ein Traumprinz mit modischem Vollbart) schon im Keim ersticken will? Zunehmend verlieren sich an diesem Premierenabend Richtungssicherheit und stilistische Prägnanz. Tschaikowskys Weihnachtsballett par excellence – in seiner ursprünglichen Form eine Ballettfeerie für viel Spitzentanz-Divertissement in Tütü – bleibt ein harter Brocken und lässt sich so einfach nicht knacken.
Schreiner scheitert an seiner Vision eines bewegungssprachlich wie inhaltlich fesselnden Stücks Tanztheater. Trotz charakterlicher Ausbrüche einiger Figuren, die sich – wie beim Großvater aus Russland mit machoidem Hang zu Schwermut (Alfonso Fernández, später die Lachnummer Eisbär) – stets einfach an Tschaikowskys musikalischen Themen entzünden. Auch GOP-Show-verdächtige Clownerien als Einstimmung in den letztlich recht konventionell-revuehaft gestrickten zweiten Teil (gut aufeinander eingespielt im Slapstick-Duo mit Gaumenpfeifen: Droßelmeiers Puppenmännchen Javier Ubell und Guido Badalamenti) ändern daran wenig.
Das Verzahnen und Verkeilen im Stil blendend weißer Eiskristalle haben die Schneeflocken zwar drauf, doch die futuristischen Latextrikots sind dem Team im Kontext der Story schlichtweg „zu heiß“ geraten. Überhaupt bleiben Schreiners Interpreten – cool oder crazy schon durchs Outfit – allzu schablonenhaft zu dauerhaft-zeitgenössisch aufgeladenem „Körperschlängeln“ verdammt. Allen voran der alle an Körpergröße überragende Rodrigo Juez Moral, dessen Profil als Drahtzieher und Patenonkel Droßelmeier irgendwo zwischen Magier und väterlich motiviertem Erste-Liebe-Kuppler versandet.
Das Aufgebot an überdrehten Verwandten mit ihren dem Alltag abgeschauten Macken und Ticks schwelgt in Klischees. So treibt man einer Geschichte die Komponente Märchen aus. Wenn das Absicht war, dann Bravo! Fatal zudem, dass sich das Staatstheater-Orchester unter Kiril Stankow mit dem klangfarblichen Glanz und der melodiösen Leichtigkeit der ohrwurmgespickten Partitur hörbar abmüht. Massiges Dauerforte macht die bisweilen wuchtig wirkenden Hebungen der Tänzer nicht gerade charmanter. Smalltalk in den Pausen, zum Schluss: Applaus, Applaus! „Der Nussknacker“ ist nach zwei Stunden aus. Als Einstand am wiedereröffneten Haus hätte man sich von Schreiner und seinem engagierten Ensemble eine weit bessere Neufassung gewünscht.
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz: "Der Nussknacker", Premiere am 23. November. Nächste Vorstellungen am 3., 9., 23., 25. Dezember im Staatstheater am Gärtnerplatz