Es war keine einfache Einladung, die Ballettchef Manuel Legris an Davide Bombana aussprach, als er ihm den Auftrag für „Roméo et Juliette“ gab. Denn nicht die treibende Kraft Prokofjevs, sondern die dramatische Symphonie von Hector Berlioz sollte die musikalische Grundlage bilden, die aus Instrumental- und Gesangsteilen besteht. Bombana integriert die Sänger in das Bühnengeschehen und der großartige Chor der Volksoper Wien unter der Leitung von Thomas Böttcher wird zum Hauptdarsteller.
Gleichzeitig verkürzt der Choreograf die Geschichte um die Veroneser Liebenden auf die Schlüsselszenen und wichtigsten Rollen und stellt die Intrigen der Königin Mab, Sinnbild für Irrationalität, ins Zentrum der Handlung. Berlioz (1803-1869) hatte dieser Figur, die in einer Rede Mercutios vorkommt, ein Scherzo und ein Scherzetto gewidmet. Die Abkehr vom Glauben an die reine Vernunft ist ein Zeichen der Zeit im post-revolutionären Frankreich und sie liegt der Familienfehde im Verona der Renaissance zugrunde. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts bringt es die Irrationalität als gesellschaftliche Realität gerade wieder zu notorischer Prominenz.
Sie ist auch die einzige Figur, der Bombana einen eigenständigen Bewegungsmodus zugesteht. Mab (Rebecca Horner) und ihre Doubles (Tainá Ferreira Luiz, Suzanne, Kertész, Dominika Kovacs-Galavics und Mila Schmidt) tanzen auf Spitze und sind doch in tiefem Plié immer sehr bodennah. Mit schlangenhaften Windungen bahnt sie sich ihren Weg durch die Menschen um sie zu stören, zu verwirren, Zwietracht zu säen. Ihr Gegenpart ist der aufrechte Pater Lorenzo (Roman Lazik), der seinen großen Auftritt am Ende des Stückes hat.
Dass die Geschichte in der Gegenwart spielt, manifestiert sich in zwei Aspekten der Produktion: Einerseits entsprechen die Kostüme von rosalie der heutigen Mode – eine frech-gewagte Mischung unterschiedlicher Elemente wie etwa Julias Outfit mit Tüllrock und Lederjacke. (Der Künstlerin, die während der Produktion verstorben ist, ist die Produktion gewidmet.) Andererseits ist der Tanzstil in der klassischen Moderne angesiedelt, mit viel Bodenarbeit und Partnering, bei dem aber die Leichtigkeit nicht aufgegeben wird und die Schwerkraft trotzdem weitgehend aufgehoben bleibt.
Bei den Hauptrollen des Shakespeare-Dramas wird choreografisch wenig Abwechslung geboten, sie sind in ihren Bewegungen kaum differenziert, mit schnellen bis hektischen Bewegungen füllen sie den kleinen Bühnenraum, der durch das Gestänge des Bühnenbilds mit der imposanten Lichtinstallation von rosalie begrenzt ist. Das hat zur Folge, dass sich die Interaktionen nicht entwickeln und auch keinen Platz für die emotionale Gestaltung geben. Wobei in den Gesten von Tybalt (Martin Winter), Mercutio (Alexander Kaden) und Benvolio (Gelb Shilov) immer wieder Referenzen an die Cranko-Choreografie aufblitzen, ganz so als setze Bombana die Geschichte als bekannt voraus und skizziere lediglich die Handlung als Erinnerungsstütze.
Der Szenenablauf folgt der musikalischen Vorgabe der Symphonie dramatique, die vom Volksopernorchester unter der Leitung von Gerrit Prießnitz meisterhaft musiziert wird. Zusammen mit dem Chor, der Altistin Annely Peebo und dem Tenor Szabolcs Brickner hinterlässt es im ersten Akt den größten dramatischen Eindruck.
Die jugendliche Verliebtheit von Romeo und Julia (Maria Yakovleva und Masayu Kimoto) verblasst dagegen. Erst im zweiten Akt gewinnt das Geschehen an Eindringlichkeit, wird der grenzenlose Schmerz, wenn sie mit dem Tod des/der Geliebten konfrontiert werden, spürbar. Der Höhepunkt ist aber, wenn der Bass Yasushi Hirano als Alter Ego von Pater Lorenzo, die verfeindeten Parteien beschwört ihre Feindseligkeiten einzustellen: Die ChoristInnen reichen einander die Hände und bieten das Bild einer friedlichen Gemeinschaft – bevor Mab sich noch einmal ihren Weg bahnt und die Verbindungen trennt … Im Sinne der gesellschaftspolitischen Aspekte seiner Erzählung ist Bombana damit eine schlüssige Auflösung gelungen.
Wiener Staatsballett: „Roméo et Juliette“, Uraufführung am 9. Dezember 2017 an der Volksoper Wien. Weitere Aufführungen am 12., 15., 19., 22. und 27. Dezember.