Hoffnungslos. Und doch voller Zuversicht. „Requiem pour L.“ ist weder reines Tanz- noch Theaterstück. Was Choreograf und Regisseur Alain Platel gemeinsam mit seiner Kreativgruppe „Les ballets C de la B“ und Komponist Fabrizio Cassol vor den Augen des Publikums entstehen lässt, wirkt vielmehr wie eine inszenierte Seelenmesse. Eine klanglich und bewegungsenergetisch grandios in den Bühnenraum modellierte Zeremonie, die das Sterben eines Menschen im Kreis seiner Angehörigen begleitet.
Es sind die Züge einer Frau, von der man nicht mehr als den Anfangsbuchstaben ihres Namens „L.“ erfährt. Sie beherrschen Blick und Gedanken der Zuschauer ebenso wie jede Interaktion der Künstler über die gesamte Spielzeit von gut 100 Minuten – groß in schwarz/weiß auf den Bühnenhintergrund projiziert. Der Boden davor ist zerklüftetet. Vollgepflastert mit schwarzen, unterschiedlich hohen Kuben. Stelen gleich, die an ein Gräberfeld erinnern. Hier, mal halb verborgen, mal frech stampfend obenauf, finden die Performer, deren Füße in klobigen Gummistiefeln stecken, ihren Platz.
Das belgische Erfolgstandem Platel & Cassol, das ein herausragendes Faible für die Fusion westlicher und außereuropäischer Musik- und Köpersprache auszeichnet, widmet sich in ihrer vierten Zusammenarbeit dem einzigartigen Schwellenmoment zwischen Leben und Tod. Für zwei ausverkaufte Vorstellungen (tout Munich gab sich sozusagen die Ehre) hatte Walter Heun (Joint Adventures) die Truppe dank einer Tourneelücke kurzfristig in die Bayerische Landeshauptstadt umgelenkt. Gerade erst am 18. Januar bei den Berliner Festspielen uraufgeführt gastierte es nun im Münchner Residenztheater.
Fundament des sinnlichen, stark emotionalen Performance-Konzerts ist Mozarts letzte, unvollendete Komposition – jenes berüchtigte Auftragswerk, über dem das Musikgenie 1791 nur 35-jährig verstarb. Die unbequeme, erdverbunden-bewegende Kraft seines Requiems ist beständig spürbar. Dessen inhaltliche Power, aber auch sprachliche Dimension hat Cassol in afrikanische Ausdrucksformen und eine Klangwelt übertragen, in der – neben drei lyrischen (Sopran, Tenor, Altus) und drei afroamerikanisch geprägten Stimmen – Percussion, Akkordeon, E-Gitarren und ein Euphonium das Sagen haben.
Populäre afrikanische Elemente werden geschickt mit Klassik, Pop und Jazz kombiniert. Schön dabei ist zu verfolgen, wie die 14 mal solistisch, mal im Kollektiv beeindruckenden Sänger und Musiker aus Afrika und Europa immer wieder zu dem zugrunde gelegten musikalischen Gerüst zurückkehren. Um sich genauso schnell wieder davon zu lösen – ausgesprochen präsent, egal ob in lauten, furios ausbrechenden oder dramaturgisch bewusst zurückgenommenen Passagen. Der Vergänglichkeit des Seins kommt man eben nicht aus – trotz der oft aus behutsamer Stille herausbrechenden Lebensfröhlichkeit und tanzgetragenen Dynamik.
Kleine Gesten, wie zu Beginn das Ablegen von kleinen Gedenksteinen oder rhythmisiertes Winken mit weißen Tüchern, das Flattern von Händen, Schwingen der Arme oder vogelartige Staksen und Twisten machen den Abend zu einem alternativen Trauerfest. Ergreifend, aber nicht schockierend, wird der Abschied der Seele vom Körper zum nachhaltigen Erlebnis.
Les ballets C de la B: „Requiem pour L.“ von Fabrizio Cassol und Alain Platel am 28. Jänner 2018 im Münchner Residenztheater