Das Besondere an der Aufführung war nicht so sehr die Besetzung – obwohl die Vorstellung mit Polina Semionova als Odette/Odile und Marian Walter als Prinz Siegrfied hochkaratig gecastet war. Vielmehr gab es einen „Schwanensee“ mit MInimaldekoration, da die Deutsche Oper aufgrund eines Wasserschadens noch immer nicht voll funktionsfähig ist. Der Blick auf die edle Tanzkunst, aber auch auf die psychologisierende Choreografie von Patrice Bart sollte so unverstellt bleiben.
Luisa Spinatelli (die auch für Kostüme und Bühnenbild des „Schwanensee“ in Wien verantwortlich zeichnet) will mit ihrer Berliner Ausstattung die zaristische Zeit, in der Tschaikowski gelebt hat, evozieren. Mit den nunmehr spärlich platzierten Gartenmöbeln wähnt man sich bei Siegfrieds Geburtstag allerdings auf einer englischen Garden Party der 1930er Jahre. Prächtig, opulent glitzern hingegen die Tutus der Schwäne und der Prinzessinnen, die sich für Siegfried zur Brautschau anstellen. Der Ballsaal im zweiten Akt kommt weitgehend ohne Einrichtungen aus. Ein karges Interior sollte die psychologisierende Sicht, die der Choreograf Patrice Bart mit seiner 1997 kreierten Version auf Prinz Siegfried wirft, unterstützen. Siegfried ist hier unter der Fuchtel seiner Mutter, eine manipulative Königin die ihn ganz bewusst in den Untergang treibt. Ihre Rolle sowie die seines Freundes Benno von Sommerstein hat Bart tänzerisch stark aufgewertet. Die Königin projiziert ein sexuell gefärbtes Verlangen auf ihren Sohn, der Freund macht ihm homoerotische Avancen. Von beiden versucht sich der junge Prinz zu befreien. Beide inszenieren eine Intrige, um seine Liebe zur Schwanenprinzessin Odette zu sabotieren. Rotbart und seine Tochter Odile lassen sich dafür gerne gewinnen. Abgesehen von seiner Rolle als Premierminister der Königin ist er Rotbart ja der Zauberer, der Odette und ihre Freundinnen in Tiergestalt gefangen hält.
Um seine Geschichte zu transportieren, hat Bart einiges an der Tradition nach Petipa und Ivanov verändert. Tschaikowskis Musik bleibt mit einigen Streichungen und Umstellungen weitgehend erhalten. Das Geburtstagsgeschenk der Mutter ist ein Gewehr statt einer Armbrust, grosso modo aber übernimmt Bart die Struktur und weitgehend die überlieferte Choreografie des ersten Aktes, besonders die Szenen des ballet blanc. Auch der Pas de deux von Siegfried und Odile im zweiten Akt ist unverändert, die Charaktertänze rufen die Königin und ihren Premier wiederholt auf die Tanzfläche. Die Schlussszene ist weitgehend anders gestaltet. Hier sind die Schwäne bereits auf der Bühne, und entsteigen nach und nach den dichten Nebelschwaden, die den Boden bedecken. Es gibt keine Versöhnung zwischen Odette und Siegfried, der am Ende Rotbart tötet. Damit wird der böse Zauber aber nicht (wie in manchen Fassungen mit einem Happy End) gebrochen. Vielmehr veranlasst ihn die Mordtat zu seinem Freitod im See.
Es gibt nur ganz wenige Choreografen, denen es überzeugend gelungen ist, eine aktuelles Narrativ über die Originalballette des 19. Jahrhunderts überzustülpen. Mats Ek oder Matthew Bourne etwa, die jedoch auch choreografisch völlig eigene Wege beschritten. Das Hybrid, das Barts Versuch darstellt, bleibt jedenfalls auf halber Strecke stecken, denn hier tritt die Charakterentwicklung hinter die Virtuosität der Danse d’école zurück, bleibt die klassische Ästhetik dominant. Darin machte das Berliner Staatsballett eine sehr gute Figur. (Auch wenn die Schwäne im ersten Akt im grünen Licht einem Algensee entstiegen zu sein schienen. Besser gehts zur Zeit bei der durch das Wasser zu Schaden gekommenen Technik nicht.) Prinzipiell entspricht der zierliche Marian Walter wohl idealtypisch dem Siegfried, wie ihn Patrice Bart sieht. Allerdings stand er sehr im Schatten der groß gewachsenen und hinreißenden Polina Semionova, die den weißen wie auch den schwarzen Schwan brillant verkörpert.
Arshak Ghalumyan bestach technisch ebenso wie durch seine arrogante Attitüde, mit der er die eiskalte machtbesessene Mutter (Elisa Carrillo Cabrera) glauben macht, ihr Erfüllungsgehilfe zu sein, während er seine eigene Agenda verfolgt. Alexej Orlenco legte die Rolle von Benno von Sommerstein wohl etwas zu harmlos an.
Keine Einschränkungen hingegen gab es beim musikalischen Genuss der Tschaikowski-Partitur mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Robert Reimer.
Offensichtlich konnte Patrice Bart, der insgesamt vier Ballette in Berlin inszeniert hat, Sasha Waltz und Johannes Öhman, das neue Leitungsteam des Staatsballett Berlin ab 2019, überzeugen. Im Gegensatz zu seiner „Giselle“, die abgesetzt wird, bleibt dieser „Schwanensee“ weiterhin im Repertoire der Compagnie.
Berliner Staatsballett „Schwanensee“ am 23. März 2018 in der Deutschen Oper Berlin. Weitere Vorstellungen in dieser Saison am 19., 21. und 27. Juni