Selten habe ich das Publikum in Dschungel Wien durchgehend so aufmerksam erlebt. Auch die Zustimmung am Ende des Stückes war enthusiastisch, jedoch nicht übertrieben polternd. Das Kollektiv Kunststoff – das sind Christina Aksoy, Waltraud Brauner, Raffaela Gras und Stefanie Sternig – hat mit seinen Zukunftsvisionen offenbar den Nerv der digital natives getroffen und dafür auch ein rundum ansprechendes Format mit Tanz, Musik (Peter Plos) und Visuals (nita) gefunden.
Wir sind mitten drin in der schönen, neuen Welt, in der Iris (eine Mischung aus Alexa und Siri) unsere Bedürfnisse voraussieht, anspricht und entsprechende Handlungsvorschläge macht. Der Chip der persönlichen Assistentin sitzt im Auge, die Iris-Kontaktfläche ist eine Art Touch Screen auf transparenter Fläche. Iris-Reflektoren in der Hand liefern die schönsten Selfies – die Welt ist also wieder eine Scheibe.
Die Aktivitäten werden mit Videoprojektionen dokumentiert: Bilder, Symbole und Collagen bedecken mit nervöser Geschwindigkeit die Wände, erschaffen eine fast beklemmende Atmosphäre. Doch das Kollektiv Kunststoff spielt hier nicht mit Ängsten, sondern setzt sich pragmatisch mit der neuen Realität auseinander. Hier wird nicht Moral gepredigt, denn Iris liegt im Trend und fasziniert. Ebenso wie das Videobloggen, bei dem die Mädchen mit überspitzter Begeisterung ihre neueste Erfindung anpreisen – selbstbewusst und gleichzeitig verunsichert. „Was, wenn ich für mein Video keine „likes“ bekomme?“, schwebt als bange Frage im Raum. Jedenfalls kommt den Darstellerinnen das zeitgeistig deutsch-englische Geplapper überzeugend natürlich und spontan über die Lippen.
Choreografisch haben die Tänzerinnen Iris’ verbale Anordnungen sehr geschickt umgesetzt, köstlich die Übersetzung von Befehlen wie Upload, Download, Copy & Paste in körperliche Aktionen. Als ein Virus schließlich Iris außer Gefecht setzt, sind die Vier ziemlich orientierungslos, bis sie beginnen, ihre eigenen Spiele mit den flexiblen Kontaktflächen zu erfinden und eine neue Art von Freiheit zu entdecken.
Die Mitglieder des Kollektiv Kunststoff kommunizieren mit ihrem Publikum auf Augenhöhe ohne ihre kritische Distanz zu digitalen Entwicklungen hintan zu stellen. Sowohl tanztheatralisch als auch pädagogisch folgen sie eher einem traditionellen als einem experimentellen Ansatz, und erreichen damit ernsthaft und doch spielerisch den oft heiklen Point of Balance zwischen pädagogischem Anspruch und publikumswirksamen Gefälligkeiten.
Kollektiv Kunststoff „Und die Erde ist doch eine Scheibe.“ am 6. April im Dschungel Wien. Weitere Termine am 14., 15. und16. Mai sowie am 4., 5. und 6. Juni 2018