Aufstieg und Fall Marilyn Monroes auf der Bühne umzusetzen, verlangt allen Beteiligten einiges ab. Es bedeutet, in eine fremde Haut zu schlüpfen und sich emotional mit einer Filmikone zu identifizieren, die sich zielstrebig-geltungsbedürftig zur glamourös-verführerischen Kunstfigur stilisierte. Ummodelung des kompletten Ichs inklusive. In Monroes kurzem Leben verschwimmen Realität und Fiktion völlig. Geprägt war es von ihrer Suche nach Perfektion und dem Hunger auf Liebe, Erfolg und Anerkennung.
Giada Zanotti kostet ihre Auftritte als Diva in aufreizenden Gewändern und blonder Perücke (Kostüme: Alexandra Pitz) tänzerisch wie darstellerisch voll aus. In Jörg Mannes temporeichem choreografischen Aperçu „Marilyn“ ist sie die aufstrebende, sich ihrer Wirkung auf Männer manchmal fast maskulin-dominant bewusste Frau. Letztlich aber geht sie am Verlust der eigenen Restidentität zu Grunde.
Auf der Bühne bleibt Zanottis Marilyn nie sehr lange allein. Immer wieder taucht Norma Jeane Baker auf – ihr junges, noch unverbogenes Alter Ego. Catherine Franco verkörpert die Ehrgeizige, die es unbedingt zu etwas bringen will, mit brünettem Pferdeschwanz und der aufgeweckten Ausstrahlung einer heranwachsenden Schönheit. In einem Korridor aus gegenläufigen, sich kräuselnden und schließlich stark wellenden Streifen (Projektionen: Philipp Contaq-Lada) liefern sich beide Tänzerinnen eine Art Duell. Am Ende hat Marilyn ihre Metamorphose vollzogen. Mit dem Fuß drückt sie Jeane grob zu Boden. Im zweiten Teil folgt die Revanche: Alkohol und psychische Probleme haben Marilyns Wahrnehmungsschärfe getrübt. In einer eindrücklichen, technisch raffiniert gelösten Spiegelszene sieht sich die Blondine gleich mehrfach und Aug‘ in Aug‘ mit dem Erscheinungsbild ihrer Vergangenheit konfrontiert. Zweifellos ein Höhepunkt des im Flair der 1950er Jahre unterhaltsam-kompakten Abends.
Männer bestimmen im Weiteren Marilyns Werdegang. Kumpelhaft umschwärmt sie das Rat Pack der Showbusiness-Kollegen Frank Sinatra (Conal Francis-Martin), Sammy Davis Jr. (Giovanni Visone) und Dean Martin (Davide Sioni). Aggressiver hinsichtlich seiner Besitzansprüche tritt Denis Piza in der Rolle des Baseballstars Joe DiMaggio auf. Die Beziehung zerbricht an Marilyns zunehmender Berühmtheit. Als Kulisse für die Trennung ragen ihre Beine in Form eines riesigen Pappaufstellers bis zur Decke.
Die zärtlicher angelegte Amour zum Schriftsteller Arthur Miller (in seiner Hingabe überaus elegant: Orazio Di Bella) hat in New Yorks imposanten Wolkenkratzerschluchten quer über einen Steg aus Filmequipment-Boxen ihren Ausgangspunkt. Je höher hinauf die Kamera steigt, desto mehr wird auch der Zuschauer vom Schwindelgefühl dieser Liebe ergriffen. Zum Schluss – und der gerät Jörg Mannes in seiner Abruptheit leider fast zu kurz – wetteifern in einem Trio die Kennedy-Brüder John (Conal Francis-Martin) und Bobby (Davide Sioni) um Monroes Gunst. Hinter einer schmalen, halbgeöffneten und überdimensional hohen Tür bewegen sich die weiß-roten Streifen der amerikanischen Flagge im Wind.
Was Marilyn mit ihrem Techtelmechtel im Weißen Haus angerichtet hat, lässt Hannovers Ballettchef in einem Solo zum dahingeraunten Geburtstagsständchen „Happy Birthday, Mr. Präsident“ kulminieren. Das aber wird nicht von Giada Zanotti getanzt. Mannes wechselt unvermittelt die Perspektive und zeigt das verletzte Innenleben der brüskierten First Lady. Clever! Im Lichtschein des Türschlitzes ringt Jackie in einem stillen Moment abseits der Öffentlichkeit um Fassung. Bewegungstechnisch wunderbar gebrochen dargeboten von Lilit Hakobyan. Man hatte sie zuvor schon live in den Bildmitschnitt einer Rede JFKs hineinkopiert und mittels Bluescreen-Trick als dessen Gattin eingeführt. Im Schlepptau: eine rücksichtlos zum Präsidenten der Vereinigten Staaten tapsende Monroe.
Giada Zanotti gestaltet Ihren Part keineswegs sinnlich-zerbrechlich. Die Füße bisweilen weit auseinander und im Plié gibt sie das anfangs im innigen Duett mit Fotografen über Filmkisten hinweg tingelnde Leinwandsternchen eher forsch und kämpferisch. Sie stellt Marilyns Meisterschaft im Verdrängen heraus, ihre radikale Abwendung vom adretten Mädchenimage. Auffallen lautet die Devise auf dem unumkehrbar-fatalen „Ich-will-hoch-hinaus“-Trip der Monroe hin zum Sex-Vamp mit diversen Affären, Drang zu Überkontrolle und quälenden psychotischen Zuständen.
Für die Italienerin aus dem Ensemble des Balletts der Staatsoper Hannover bedeutete die Herausforderung zugleich, erstmals eine Titelrolle zu meistern – und zwar eine, die sowohl den zahlreichen Klischee-Bildern als auch der prominenten ambivalenten Persönlichkeit gerecht werden soll. Zwei Erzählschienen, die sich – untrennbar ineinander verwoben – durch Mannes klar strukturierten Handlungsablauf ziehen. Dem roten Faden zu folgen, fällt dadurch relativ leicht.
Zudem rechtfertigen die verschiedenen Narrationsebenen auch die Einbeziehung problematischer Sequenzen. So lässt der Choreograf seine Interpretin in schrillem Pink erst die Filmshownummer „Diamonds are a Girl’s Best Friend“ zu Playback nachempfinden. Später schenkt er dem Publikum einen weiteren revuehaften Wiedererkennungscoup: Monroes hochfliegenden Plisseefaltenrock – zum Glück garniert mit einem parodistischen Seitenhieb. Gleich vier Damen rekeln sich auf den mit Rollen versehenen Kisten. Als sich dann noch der Zwischenvorhang hebt, sind Marilyns laszive Abbilder plötzlich überall.
Soll dies eine Anspielung auf Doubles, Nachahmer oder gar Followers sein? Oder beinhaltet das Gruppentableau den Hinweis aufs Entgleiten absoluter Kontrolle über die Vermarktung des selbstgeschaffenen Geschöpfs? Egal. Mannes Tanzabend zeichnet vor allem der Fokus auf Monroes Mitschuld an ihrem frühzeitigen Untergang aus. Seine Premiere will offenbar weder alte Fragen beantworten noch neue aufwerfen.
Durch die atmosphärisch-sinnige Bühnengestaltung von Florian Parbs und die gelungene musikalische Zusammenstellung (John Adams, Marilyn Monroe, Frank Sinatra, Nine Inch Nails u.a.) wird der Zuschauer bei Laune und in Spannung gehalten. Weil die Musik vom Band kommt, erstreckt sich die Bühnenfläche auch über den Orchestergraben. Einige der 23 inhaltlich lediglich durch Stichworte („Beach“, „Studio“, „Divas“, „Egoists“) betitelte Bilder spielen mit der Raumtiefe. Andere profitieren in ihrer Schlagkraft von der Rampennähe.
Der Abschnitt „Housekeeper“, der Marilyns Tod thematisiert, ist so ein Fall. Mit ihm beginnt und endet Mannes‘ eineinhalbstündiges Stück. Giada Zanotti muss hier wenig tun. Ihr lebloser, von Satinstoff umspülter Körper schmückt ein großes Bettgeviert. Drumherum sorgt die fabelhafte Lauren Anne Murray für introvertierte Bewegungsexplosionen. Im Blümchenkleid mit Strickjacke kann man sie für Marilyn als Kind halten. Ihre Rastlosigkeit, die Grimassen und das Nägelkauen – alles würde zu der zu Pflegeeltern und ins Waisenhaus Abgeschobenen passen. Dabei formulieren Murrays drastische Gesten und Schritte pures Entsetzen. Das geht wirklich unter die Haut.
„Marilyn“ Premiere am 5. Mai 2018 an der Staatsoper Hannover, weitere Vorstellungen am 8., 16., 21. Mai, 3., 8., 21. Juni, 15., 21. September; 10., 18., 19., 20., 21. 31. Oktober; 7., 24. November 2018