Georges Balanchines Stücke sind für Ballettfans ikonisch. Große Spannung also, ob die gern als „Extremperformerin“ bezeichnete Florentina Holzinger aus dem Neoklassiker „Apollon musagète“ mal wieder eine freakige Trash-Show mit unbedeutenden Tanzeinlagen machen würde. Aber: Ihre Arbeit erwies sich als sehr interessante künstlerische Umdeutung auf einer soliden theatralen und choreographischen Basis. Zwar mit unnötigen Längen, die den Spannungsbogen gefährden, aber mit starkem Potential.
Es nervt einfach, wenn einem vor der Aufführung aus den Programmtexten „Dekonstruktion, Zerschmetterung, Neoliberalismus, Geschlechterkampf, Körperpolitiken“ und sowas entgegen schreit. Man denkt sich, bitte lasst den Käse und zeigt einfach, was euch so fasziniert und wie ihr es macht. Denn dass zum Beispiel das klassische Ballett die nicht-klassische Tänzerin Holzinger fasziniert, hat sie schon mehrfach unter Beweis gestellt. Zuletzt etwa in „Schönheitsabend“ mit ihrem damaligen Partner Vincent Riebeek, als sie ein historisches Liebesduett von Vaslav Nijinsky und Ida Rubenstein gaben, nicht ohne Live-Penetration auf der Bühne.
Am Ballett also reibt sich Holzinger gern, und diesmal an Balanchines bahnbrechendem neoklassischen Stück, das er noch als Choreograph der Ballets Russes 1928 zu Igor Strawinskis „Apollon musagète“ schuf. Da geht es um Gott Apoll und seine weiblichen Musen, und das Werk ist deshalb so wichtig, weil er hier erstmals das neoklassische Vokabular austestete.
Eng an der musikalischen Struktur kombinierte Balanchine damals die klassischen Moves in neuartiger Weise und agierte plastischer, architektonischer. Das Stück besteht nur aus Soli, Duetten und zum Schluss aus einem Quartett. Er veränderte die Choreographie mehrfach, auch für das New York City Ballet, und 1979 nannte er es in „Apollon“ um. Der berühmte Schluss mit der skulpturalen Arabesque von Apollon und seinen Musen stammt auch von damals.
Holzinger nun kreierte mit ihren fünf nackten Tänzerinnen und einem automatischen Rodeo-Stier eine spannende, feministische Show mit starker Bildsprache. Die Handlung ist da weniger der Punkt, und dass nur Frauen um den Stier kreisen – der am Ende demontiert wird – ist schon Statement genug. Was zeigte sie also?
Alles, was Holzinger mag, sozusagen. Das sind Elemente von echten Freakshows, wie Selbstverletzungen am Präsentierteller. Eine tätowierte Performerin stach sich zum Beispiel riesige Akupunkturnadeln durch die rasch blutende Stirn, schluckte einen Dildo-artigen Luftballon, holte einen anderen aus der Vagina, entzündete Kerzen an Nadeln in ihren Unterarmen, führte sich einen Trinkhalm durch den Sinusgang zwischen Nasenhöhle und Rachen, aus dem jemand aus dem Publikum dann Gin Tonic schlürfen durfte. All das wurde von einer anderen Performerin mitgefilmt und auf Screens in Großaufnahme gezeigt.
Eine andere pinkelte in ein großes Glas, wechselte zu einem anderen und defäkierte (sprich: schiss) dort hinein. Man fühlte mit ihr und war froh, dass das Abführmittel so pünktlich wirkte. Natürlich fehlten Holzingers sportliche Einlagen am Trapez nicht – da erinnert sie schon an Helene Fischer, die weniger durch ihre Musik als durch ihre akrobatischen Fähigkeiten besticht und diese auch in ihren Shows gekonnt einsetzt. Auch Gewichte zum Stemmen und Laufbänder gab es. Klingt in der Aufzählung ein bisschen wie Zirkus, allerdings ist das auch irgendwie Programm. Schon eingangs kündigte eine Performerin an, was das Publikum zu sehen bekäme: echten Schweiß, echtes Blut, echte Tränen, Entertainment pur.
Und das macht auch die Schwäche dieses Abends aus, dass Holzingers Bühnenformat weniger die Performance im Stil einer Marina Abramovic ist, sondern tatsächlich die Show. Es wird zu viel präsentiert anstatt in ein Stück integriert, was nur um seiner selbst willen zum Einsatz kommt. Holzinger gelingen viele dichte Bilder und Szenen zum eindrucksvollen Sounddesign von Stephan Schneider, auch gute Tanzsequenzen mit den Frauen (natürlich auch in Spitzenschuhen). Doch es entsteht eine Überfülle, bei der man gern die dramaturgische Schere einsetzen würde.
Schön wäre das Schlussbild mit der zitierten Arabesque Balanchines gewesen, (auch wenn sie nicht aus der Fassung für Holzingers Vorlage stammt). Das wäre rund gewesen, doch leider ging es dann noch mit der Demontage des Stiers weiter, verständlich irgendwie, aber der Spannungsbogen war weg. Da gibt es noch genug Luft nach oben, und Holzinger zählt (ohne Riebeek) ganz bestimmt zu den interessantesten darstellenden Künstlerinnen Österreichs.
Florentina Holzinger „Apollon“ am 1. August 2018 im Volkstehater im Rahmen von Impulstanz