Mogelpackung – oder was? An der Premiere „Romeo und Julia“ im Staatstheater am Gärtnerplatz reiben sich die Gemüter. Dabei lassen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir den Stimmungspegel im Saal mit einer kurzen Vorstellungsrunde der 20 Tänzer erstmal hochschnellen. Das vergnügliche Intro vor dem Vorhang mit Aussagen wie „ich tanze alle Leute die starben, weil sie die falsche Person liebten“ dient den beiden Choreografinnen als Fingerzeig auf die nun folgende Show:
Eine Performance satt an großen Bildern, in der Shakespeares eigentlicher Plot absichtlich keine Chance zur Entfaltung bekommt.
Spätestens mit Beginn des eigentlichen Stücks muss man sich daher von allen Erwartungen oder Erinnerungen an bisherige „Romeo und Julia“-Erlebnisse verabschieden. Hier ist alles Gruppe. Es herrscht Chaos und absurde Spielwut. Eine schiere Menge an Romeos und Julias lebt sich aus. Statt Mercutios übermütig herbeigeführtem Tod beschmieren sich die Tänzer mit Blut. Zu sehen sind Mutter Erde (die Amme!?), die ihre Liebenden aus blutenden Brüsten nährt oder eine düstere, fünfköpfige Engelsgestalt mit haarigen Flügeln. Das kann einen erschlagen. Oder man lehnt sich zurück und gönnt sich, wie die Rezensentin, unvoreingenommen auf Entdeckungsjagd zu gehen.
Der Prolog zu softer Synthesizer-Musik mit dem malerischen Titel „Watching Water“ (Skúli Sverrisson) entführt in die nüchterne Abstraktheit des kahlen Bühnenraums. Nur im Hintergrund ergießt sich goldener Stoff über einige Treppenstufen. Chrisander Brun (Bühne) und Sunneva Ása Weisshappel (Kostüme) setzen diesen in verschiedensten Szenen als effektvollen Eyecatcher, als Mittel für Übergänge und Seelenlandschaften ein.
Offenbar sind wir in einer Welt am Anfang der Menschheit gelandet. Die Tänzer tragen Nacktlook-Trikots und haben darüber fette Pobacken oder einzelne Muskelpakete an Schultern, Armen, Beinen, Bauch oder Rücken gezogen. Sie lassen ihre Arme schwingen, den Atem rasseln und flirten körperlich uranimalisch. Mancher ist sich selbst genug, Begegnungen laufen nicht nur zartfühlend ab. Was die Posen sollen, ist eindeutig, ihre mal gruppenintern ausgerichtete, dann mehr publikumsadressierte Anmache zweideutig.
Von dieser Kluft zwischen Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit zehrt die gesamte choreografische Uraufführung – augenzwinkernd, auf die Dauer aber etwas wiederholungslastig gepaart mit zahlreichen slapstickartigen Einfällen. So zum Beispiel der Personifikation eines zuckenden, dann krampfenden Herzens, erst in rotem, zum Schluss in schwarzem Ballonoutfit. Genremixturen aus Cheerleader-Dynamik, visueller Opulenz, roher Drastik und zum Schmunzeln verleitendem Beiwerk nutzen sich im Gegensatz zu gut auschoreografierter Handlung eben schneller ab. Ob es den beiden Isländerinnen letztlich gelingt, das Bewusstsein heutiger Problemfelder rund um Frauenbilder, Genderfragen oder den Umgang mit Sex, Hass und Gewalt zu weiten, sei dahingestellt. Das Erwachen heftiger Leidenschaft (mitsamt emotionsverdichtendem Schreien) der monströsen Kreaturen setzt sich jedenfalls über den Einsatz der Orchestermusik fort.
Crux und tragende Kraft der neuen Gärtnerplatzversion bleibt Sergej Prokofjews hinreißend-vortreffliche, rhythmisch komplexe und hundertfach inszenierte Ballett-Komposition. Trotz Kürzungen (mehr Musik hätte der Gegenentwurf zu jeglicher Werktradition schwerlich füllen können) lässt sie hören, was man auf der Bühne nicht sieht. Und selbst bei inhaltlicher Reduktion auf ein symbolisch verfremdetes, pur introspektives Gefühlskaleidoskop ist sie in ihrem Ausdruckspotenzial nicht kaputt zu kriegen. Gerade dann in ein Videokunstwerk gezoomter Hautnahaufnahmen und Zungenküsse auszuweichen (Vladimar Jóhannsson), wenn es zwischenmenschlich zur Sache geht, während davor und danach ein Gros an Bewegungsvokabular genau das ständig zitiert, ist nicht nach jedermanns Geschmack. Streckenweise lässt die gruppenorgiastische Version der beiden Choreografinnen an einen skurrilen Filmtrip à la David Lynch denken.
Am Ende gibt es einhelligen Jubel für das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter Leitung des Dirigenten Daniel Huppert. Die voll in ihren namenlosen Rollen aufgehenden Tänzer wurden während dieses diabolisch-turbulenten Szenarios wirklich schön begleitet. Für Manchen mag das ein Trost gewesen sein. Das Produktionsteam dagegen badet in einer von Buhs begleiteten Publikumskontroverse. Man ist sich uneins – wie unter den verfeindeten Clans der Montagues und Capulets. Nichts wie hin, wer Partei ergreifen will!
„Romeo und Julia“. Premiere am 22. November 2018 im Staatstheater am Gärtnerplatz. Weitere Vorstellungen (ab 17 Jahren empfohlen!) am, 9., 18., 26. Dezember und wieder im neuen Jahr