Anlässlich John Neumeiers 80. Geburtstag am 24. Februar hat Münchens Ballettchef Igor Zelensky kurz nach dessen „Nussknacker“ auch die „Kameliendame“ als Highlight der laufenden Spielzeit angesetzt – seit 40 Jahren der wohl bedeutendste Repertoirebestseller des Hamburg Ballett, deren Erste Solisten Anna Laudere und Edwin Revazov die Wiederaufnahmeserie beim Bayerischen Staatsballett eröffneten.
Stuttgart war 1978 Uraufführungsort des choreografischen Meisterwerks nach Vorlage von Alexandre Dumas (Sohn). Die Wiederaufnahme dort findet am 16. Jänner statt! An der Maximiliansstraße ließ Ivan Liška erst vor zweieinhalb Jahren seine Direktion mit diesem gesellschaftlich motivierten Ballettdrama und den scheidenden Ersten Solisten Lucia Lacarra/Marlon Dino ausklingen. Die Erinnerung daran mag noch präsent sein.
Glück und Pech liegen manchmal unfassbar nah beieinander. Bei der nun 100.(!) Vorstellung im Nationaltheater herrschte wieder kompanieübergreifende Debüt-Stimmung. Nur Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook, die Neumeier höchstpersönlich als Premierenbesetzung gecoacht hatte, fehlten. Bitteres Tänzerschicksal, wenn sich die Partnerin am Vortag in der Probe verletzt. Wie schlimm, ist noch offen. Glückliche Fügung, dass Zelensky sein Ensemble gern durch Rollenvergaben an renommierte Gäste puscht. Das steigert die internationale Attraktivität der Kompanie in Zuschauer- wie Fachkreisen. In Fällen wie der „Kameliendame“ kann befruchtende Austauschprogrammatik sogar richtig sinnvoll sein.
So waren Anna Laudere und Edwin Revazov – eines der aktuell arriviertesten Erste-Solisten-Ehepaare des Hamburg Ballett, beide Jahrgang 1983 – bereits im Haus und konnten einen Tag früher als vorgesehen einspringen. Sofort zu spüren waren ihre an Souveränität kaum zu überbietende Erfahrung und der karrierelange Umgang mit Neumeiers stets inhaltsmotiviertem Bewegungsvokabular. Keine Geste läuft ins Leere. Jeder Schritt offenbart, in welchem Status sich die Seele des gespielten Charakters gerade befindet. Der Ausgang ist bekannt. Immer wieder spannend bleibt, welchen besonderen Entwicklungsbogen bestimmte Tänzer ihren Figuren zu geben vermögen. Für die Konstellation Ryzhkova/Cook sollte man nichtsdestotrotz in Hab-Acht-Stellung bleiben.
Als Revazovs Armand Marguerite beim Besuch einer „Manon“-Aufführung erblickt, ist es um ihn geschehen. Sein leidenschaftlicher Blick verschlingt die umschwärmte Schönheit regelrecht. Kristina Lind (ihr hoher Spann sprengt jeden Spitzenschuh) und Karrieresprinter Dmitrii Vyskubenko interpretieren im Theater auf dem Theater hinreißend brillant das von Neumeier stringent in die Story eingewebte Spiegelbild-Paar Manon/Des Grieux. Geschenkt, dass ihnen die tragische Hebung am Ende nicht perfekt gelingt. Beide Anwärterpartien auf die Hauptrollen wurden – Ausdruck inklusive – hervorragend gemeistert.
Dem markanten Figurenarsenal in den Ensemblepassagen verleihen Dustin Klein (Marguerite hoffnungslos beflissen umschwärmender Graf N.), Prisca Zeisel (Marguerites gewitzte Freundin Prudence), Osiel Gouneo (ihr schnieker Begleiter Gaston Rieux) und Antonia McAuley (Armands Ersatzflamme Olympia) temperamentvoll Leben. Allerdings will in der Landszene das Zusammenspiel von Pianist Simon Murray und Gouneos tänzerisch blitzsauberer Jockey-Variation mit sirrender Reitpeitsche nicht recht klappen. Der choreografische Witz, als der sportive Gentleman sattelfest auf dem Rücken eines Freundes landet, verpufft daher.
Aus dem Orchestergraben steuert Dmitry Mayboroda Chopin-Interpretationen auf philharmonischem Konzertniveau bei, die das Bayerische Staatsorchester unter Leitung von Michael Schmidtsdorff emphatisch zu instrumentaler Mehrstimmigkeit erweitert. Getragen von Chopins Kompositionen entwickelt Anna Laudere über drei Akte hinweg berührend ihre zwischen Sein und Schein, zwischen Kopfdenken und Herzfühlen zerrissene Marguerite.
Sie beginnt ungewöhnlich aufgeregt und dramatisch, schlägt den Taft ihres weiten Rocks hörbar laut zurück. Im Moment inneren Zerbrechens kompensiert sie – konfrontiert mit der Order, sich zu trennen – bravourös die Abwesenheit erbarmungsloser Strenge ihres Gegenübers. Viel zu sanft: Emilio Pavan als Armands Vater. Das Neumeier-Paar Laudere/Revazov kehrt „klassischen Ausdruckstänzern“ gleich ganz das Menschliche heraus. Ballettunverschnörkelt. Stark, wie Laudere am Ende einfach so zu Boden sinkt. Expressivität at its best.
Neueinstudierung von John Neumeiers „Kameliendame“ beim Bayerischen Staatsballett am 10. Jänner 2019 im Münchner Nationaltheater, weitere Vorstellungen am 26.1 und wieder im April