Ein weißer Palast aus sich auftürmenden Kanten und Schrägen. Davor neigt sich ein Plateau der Rampe entgegen. In Wim Vandekeybus’ körperbrachialer und kolossal bildgewaltiger Adaption von Euripides antikem Versdrama „Die Bakchen – Lasst uns tanzen“ verläuft die Grenze des Königreichs Theben genau hier: zwischen abstrakter Bühne und rotgoldverziertem Zuschauerraum.
Besonders deutlich empfindet man das, wenn Agaue (großartig spröde in ihrem Wahn: Sylvana Krappatsch) als Mörderin des Herrschers und eigenen Sohns Pentheus nach psychedelisch-zügelloser, blutrünstiger Raserei ins Parkett des Cuvilliés-Theaters hinabgehievt und gnadenlos abgeschoben wird. Zurück bleiben der blinde Seher Teiresias (René Dumont) und Vater Kadmos (Wolfram Rupperti). Agaues Schmerz katapultiert den Zuschauer aus seiner Neutralität als bloßer Betrachter heraus, macht ihn unmittelbar zum Zeugen der sich unaufhaltsam zusammenbrauenden Katastrophe.
Deren kultischer Ursprung sind Zustände des Rausches. Dafür hat Vandekeybus mit seinen Interpreten wunderbare choreografische Eingangsimpressionen aus neuartigen Hebungen, Würfen und Drehungen für verschiedenste Paarkonstellationen gefunden. Windschnell dreht sich ein Mann um sich selbst und hält die im Schwung gepackte Frau wenige Zentimeter vor sich in den Händen. Zugegriffen wird impulsiv. Bald auch gewaltsam und krude. Dionysos selbst in seiner menschlichen Gestalt greift Agaue unmissverständlich zwischen die Beine. Und lässt sie dann quer zu seinen Hüften durch die Luft schweben. Drastisch entrückt. Toll! Nichts für zimperliche Gemüter.
Die Ekstase der Mänaden am Ende, die sich dank Drehbühne in einem waldigen Hinterland aus Gerüstgestänge abspielt, kennt keinen Halt. Sie zerren den unkenntlich bemalten Pentheus vom Ast. Till Firit lebt den Skeptiker aus Verantwortung, der Veränderungen scheut, großartig aus. Erst versucht er, die Kritzeleien auf den Mauern mit weißer Farbe wieder zu tilgen. Als ihm Dionysos beim Gefecht der Argumente den Finger lutscht, willigt er schließlich ein, sich selbst ein Bild von dem triebhaften Treiben vor den Toren seines vormals blitzblanken Palastgeländes zu machen.
Pentheus zu zerfetzten, beansprucht Zeit. Am Ende steht nur mehr die Mutter da – siegesgeil den farbverschmierten Kopf fest unter ihre Achsel geklemmt. Hinter ihr strahlt Dionysos unter Schichten von Ockergelb. Doch sein Triumph ist kurz. Mitten im Wort sinkt er zu Boden – gefällt von den eigenen Gefolgsleuten. Die klettern eilig davon – über den Turm aus Stangen, in dem sie gerade noch Pentheus, ihr ausgeweidetes Opfertier, aufgehängt haben. Das hat Open-End-Dimension.
Vandekeybus’ „Bakchen“ reißen einen mit. Dichte 90 Minuten lang. Emotional bedachtsam gelenkt von einer Fülle physischer und lautmalerischer Ausdruckskraft, die die fünf rollentragenden Schauspieler, zwei Tänzerinnen (Zoe Gyssler, Aymara Parola) und zwei Tänzer (Horacio Macuacua, Borna Babić) fortwährend zu markanten Eindrücken verbinden. Immer hautnah dran am Geschehen, das in Peter Verhelsts auf wenige intensive Dialoge und Monologe verknappter Textneufassung überaus wirkungsvoll vor allem eines ausstellt: das schmachvolle Versagen einer in Umbruchsituationen desorientierten Familie. Ob Agaue, Pentheus oder Dionysos (Spross von Semele, Agaues Schwester mit Zeus, an die niemand in der Stadt mehr denken mag) – sie reflektieren am liebsten über sich selbst. So rückt das von Residenztheater und Vandekeybus’ Kompanie Ultima Vez koproduzierte Stück einem richtig auf die Pelle. Und unterscheidet sich herrlich von Dieter Dorns vorheriger, 2005 nicht minder grausamer, dabei ganz textbasierter Inszenierung.
Die Tragödie beginnt mit den Geburtsqualen der Mutter. Zupackende Hände entreißen Pentheus ihrem Leib. Er greint, zusammengefaltet am Boden. Agaue hockt apathisch am Rand. Es bedarf keiner chorischen Erklärungen. Den Keim für seinen vernichtenden Rachefeldzug hat der Dionysos längst gelegt.
Hinter Agaue ragt eine riesige Steilwand – das Bergmassiv Kithairon – in die Höhe. Die perfekte Aktionsfläche für den französischen Street-Art-Künstler Vincent Glowinski, der sich mitsamt Malutensilien abseilt. Er ist Dionysos’ omnipräsentes, für den visuellen Rausch in dieser Produktion verantwortliches Alter Ego. Aus seinen Strichen erwachsen nach und nach beispielsweise Gebirge, die sich in Gesichter verwandeln. Allein sein Action-Painting macht die Aufführung zum Muss. Wer will, findet überall symbolische Querverweise. Begleitet von fernöstlichen Klängen, die Live-Musiker Dijf Sanders ausgebauten Pianosaiten und einer Zitter entlockt. Später entladen sich diese in gewaltigen elektroakustisch verstärkten Soundclustern. Er darf aber auch, eine exotische Kürbisflöte blasend, in die Rolle der Semele schlüpfen. Für ein kurzes, sich tänzerisch umkreisendes tête à tête mit Agaue.
Die Entdeckung des Abends ist der junge Niklas Wetzel als Dionysos. Ein nach Abschluss an der Münchner Otto Falckenberg Schule sogleich ans Deutsche Theater Berlin engagierter Leonardo-DiCaprio-Typ. Wenn er sich im Duett mit einem Tänzer bewegt, überzeugt dies ebenso wie die Worte, mit denen er sein Gefolge in Bann schlägt.
„Die Bakchen – lasst uns tanzen“ in Regie und Choreografie von Wim Vandekeybus im Münchner Cuvilliés-Theater. Premiere 15. März 2019. Nächste Vorstellungen: 27., 29., 30. März und im April.
Ein Interview mit Wim Vandekeybus anlässlich dieser Premiere gibt es hier.