Wie verkörpern Tänzerinnen von heute die Bewegungssprache von gestern? Wie spinnt sich der gestische Modus weiter, welche Schwerpunkte filtern sie aus dem Erbe ihrer künstlerischen Vorfahren heraus? Faszinierende Antworten auf diese Fragen bot die Aufführung „Rosalia Chladek Reenacted“ im Rahmen der Ausstellung „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ im Theatermuseum Wien.
Nicht zum ersten Mal hat die Kuratorin Andrea Amort einen kreativen Umgang mit der Tanzgeschichte angestoßen. Bereits mehrfach hat sie ihre Forschungsschwerpunkte von jungen TänzerInnen neu interpretieren lassen, zum Beispiel die Arbeiten von Hanna Berger, über die sie 2010 ein Buch schrieb.
Der eigentliche Anlass für die Ausstellung Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ im Theatermuseum Wien ist der Nachlass der österreichischen Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Rosalia Chladek (1905-1995), der von Amort aufgearbeitet wurde und nun im Theatermuseum untergebracht ist. Ihr Bewegungssystem, das Chladek®System, wird weiterhin von der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek weitergegeben und ist nach wie vor auch Teil des Lehrgangs „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ am MUK Wien. Chladek, die im Gegensatz zu den meisten ihrer KollegInnen eine verbindliche Bewegungsmethode entwickelt hat, ist also durchaus noch heute präsent.
Und kommt damit auch dem besonderen Interesse der Tanzhistorikerin Andrea Amort entgegen, die immer wieder die Frage stellt: wie wirkt das künstlerisch Erbe auf TanzkünstlerInnen der Gegenwart? So setzt sie in der Ausstellung Chladeks Schaffen in einen größeren Kontext, einerseits in Beziehung zu weiteren ProtagonistInnen des Ausdruckstanzes, andererseits zur heutigen Tanzszene.
Das Programm „Rosalia Chladek Reenacted“ widmet sich jedoch (fast) ausschließlich dem choreografischen Schaffen der Namensgeberin. Sechs Tänzerinnen und ein Tänzer haben sich mit Chladeks Choreografien auseinandergesetzt, haben sie interpretiert oder sich davon für eigene Kreationen inspirieren lassen. Das Ergebnis war ein 90-minütige, überaus spannende und kurzweilige Aufführung, in der neue Zugänge zu den Original-Choreografien aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts gefunden wurden.
Einstudierungen
Lediglich Eva-Maria Schaller veränderte das Ausgangsmaterial nicht, sondern studierte Chladeks Szenenfolge von „Jeanne d’Arc“ (1934) ein. Selbst das Kostüm wurde von Manora Auersperg nach dem Original hergestellt. So tritt Schaller als das „Landmädchen Johanna“ in silberner „Rüstung“ mit rotem Schal auf, den sie im zweiten Teil als „gefangene Johanna“ ablegt. In ihrer Interpretation stellt sich die Tänzerin dem Expressionismus: Jeanne d’Arc folgt einer Mission, ist getrieben von starken Emotionen, die sich dementsprechend körperlich manifestieren. Und doch gelingt es Eva-Maria Schaller ihre ganz eigene Sicht auf diese historische Figur zu werfen, sie aus der heroischen Pose zu lösen und in ihrer Suche nach der göttlichen Berufung zu verorten. Man hört quasi die Stimme Gottes, die sie in den Kampf schickt oder am Ende begnadigt. Statt einer Heldinnengeschichte wird aus dieser Jeanne d’Arc das Portrait einer religiös Besessenen, und damit das subtilste und vielleicht überzeugendste Reenactment des Abends. Schaller hat bei der Erarbeitung auch das sozio-politischen Umfeld der Entstehungszeit dieser Choreografie mit bedacht. Ohne das Bewegungsmaterial zu verändern ist ihr mit diesen inkorporierten Informationen ein beeindruckender Perspektivenwechsel gelungen.
Ebenso klug und sensibel war ihre „choreografische Annäherung an Hanna Berger“. Von deren Tanzstück „Die Unbekannte aus der der Seine“ (1942) ist lediglich der zweite Teil zur Musik von Claude Debussy erhalten. Davon ausgehend und anhand von kurzen szenischen Angaben und einigen, wenigen Fotos rekreierte Eva-Maria Schaller die Szenen 1 bis 5. Die Momente vor dem Selbstmord inszenierte Schaller als Verkörperung des Wassers. Nicht psychologische Kämpfe, sondern eine unerklärliche Anziehung treibt diese Frau an. Sie baut die Wellen in ihrem Körper auf, wird zum fließenden Strom, versinkt in seinem Strudel. Als der Körper leblos im Wasser zu treiben scheint, richtet sie sich auf, als wäre sie aus dem Fluss neugeboren.
Eine ganz andere Interpretation lieferte Martina Haager mit dem „Rhythmen-Zyklus“ aus dem Jahre 1930. Die Tanzpädagogin des Chladek®Systems rekonstruierte aus den überlieferten Fragmenten drei Teile des Zyklus: gestampft, fließend und gebunden (Tanz mit dem Stab). Gut vorstellbar, dass ihr geradliniger Zugang, der sich allein am Bewegungsmaterial orientierte, und ihre tänzerische Leichtigkeit Chladeks Tanz am nächsten kamen.
Neu-Gestaltungen
Die Entdeckung des bewegten Körpers wurde auch von Katharina Senk in ihrem „Tanz. Mit dem Stab“ thematisiert. Sie adaptierte Martina Haagers Version an ihren Körper, trug statt des schwarzen Outfits einen leuchtend roten Hosenanzug und lud die Bewegungen mit erotischen Gesten sowie Martial-Arts-Moves auf und gab dem abstrakten Tanz so eine dramatische Note.
Meditativ wirkte hingegen Eva-Maria Krafts zarte Neu-Gestaltung der Sarabande aus der „Suite im alten Stil“ (1925). „Blending“ ist der Titel dieses sinnlichen Tanzstückes. Mit zarten Handgesten tritt sie einerseits in einen Dialog mit der Musik, die Rupert Huber ebenfalls auf Basis der Originalmusik (von Arcangelo Corelli) re-komponiert hat. Andererseits verschmelzen ihre persönlichen Bewegungsstudien nach und nach mit Chladeks Choreografie.
Bei Cecilia Färber taten sich Konfliktlinien nicht nur in Hinblick auf das Tanz-, sondern auch auf das postkolonialen Erbe auf. Ihr „Approach“ zur „Afro-Amerikanischen Lyrik“ aus dem Jahr 1951 blieb distanziert und auf der intellektuellen Ebene stecken. Ihrem Tanz zur Musik der Rapperin Kate Tempest leitete sie mit einem gesprochenen Text ein, der (akustisch) unverständlich blieb. Daher wurde der Versuch „den Inhalt eines sorgfältig gelesenen Textes durch Tanz greifbar zu machen“ (Programmheft) eher vom Unbehagen der Tänzerin überlagert.
Eine Fusion: Luzifer
Besonders spannend war hingegen die Gegenüberstellung zweier Versionen des Tanzstückes „Luzifer“. Die Originalchoreografie aus dem Jahr 1938 war von Chladek selbst an Harmen Tromp weitergegeben worden. Dieser studierte sie nun mit Adrian Infeld ein. Die Hip Hop-Tänzerin Farah Deen machte daraus „Urban Luzifer“. Zu einem Text (gesprochen bzw. gerappt von Harmen Tromp) entwickelt sie die Choregrafie mit Bewegungen aus dem Hip Hop, aus House, Break und Popping. Bemerkenswert, wie es Deen gelingt zwischen ihren eigenen Moves und Elementen der Originalchoreografie hin und her zu wechseln, die räumliche Struktur beizubehalten und den diabolischen Charakter herauszuarbeiten. Ein exquisites und faszinierendes Beispiel, wie eine Fusion aus alt und neu gelingen kann.
Insgesamt ist dieses Programm nicht nur in Hinblick auf die Ergebnisse interessant. Es bringt die jungen TänzerInnen mit ihren künstlerischen Wurzeln in Verbindung. Außerdem bieten die historischen Choreografien auch eine Struktur für eine kreative Erweiterung. „Den Arbeitsprozess des Projekts verbinde ich stark damit etwas Neues zu lernen. Das geht über das Lernen der Choreografie hinaus und bezieht den geschichtlichen und politischen Kontext mit ein“, schrieb Eva-Maria Schaller über ihre Erfahrung. Und wir ZuseherInnen lernten natürlich auch sehr viel über die choreografische Kunst der Rosalia Chladek, ihre Klarheit und Reduzierung auf das Wesentliche, ihre Konzentration auf die freie Bewegung jenseits überlieferter Kanons und die damit verbundene Erforschung des Körpers. All dies ist auch in der nächsten und übernächsten Tänzer-Generation gelebte Praxis. Es bleibt also zu hoffen, dass dieser Lernprozess weiteren TänzerInnen und dem Tanz-affinen Publikum offen stehen, dass dieses Programm wiederaufgeführt und sogar erweitert wird.
„Rosalia Chladek Reenacted“ am 31. März 2019 im Theatermuseum Wien. Die Ausstellung "Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne" ist noch bis 10. Februar 2020 zu sehen. Ab Mai werden jeweils mittwochs und donnerstags nachmittags unter dem Titel "Bits and Pieces" Tanz-Kurzstücke und Lectures mit KünstlerInnen und Tanz-Studierenden der MUK stattfinden.