Wie nachhaltig kann Theater sein? Nun, im Fall der Produktion zum 30-jährigen Jubiläum des Aktionstheater Ensembles hat sich die Wirkung bei mir schon über eine Woche gehalten. Ich kann keine Schokolade mehr sehen. Denn eines der Metaphern für die gelähmte Zivilgesellschaft bietet Benjamin, der pro Vorstellung drei bis vier Tafeln Schokolade in sich hineinstopft.
Regisseur und Stückeschreiber Marin Gruber widmet sich dem gesellschaftspolitischen Stillstand und sieht das mangelnde soziopolitische Engagement als eine Folge der Saturiertheit und des Überflusses, in einem Zuviel an Besitz, an Fun, an Sex bzw. Masturbation oder eben an Schokolade. In absurden, aberwitzigen Wiederholungen werden die Obsessionen immer und immer wieder aufs Tapet gebracht. Dazu werden Autoreifen ebenso sinnlos von einem Ort zum anderen geschleppt und umgeschichtet. Hurra, wir drehen und im Hamsterrad!
Der zur Zeit der Stückentwicklung brandheiße innenpolitische Skandal findet nur am Rande Beachtung, mit den bekannten Eckpunkten – „zack, zack, zack“ oder „genug ist genug“ – freilich in einem völlig anderen Kontext.
Auch diesmal agieren die großartigen SchauspielerInnen des Aktionstheater Ensembles mit rückhaltlosem Einsatz und physischer Präsenz, inklusive Ballett-Einlage. Dicht am Publikum brüllen sie ihre beklemmende Eingeschränktheit heraus. Abgestumpft, ohne Empathie, ja ohne einander wahrzunehmen. Ein Amoklauf einsamer Seelen.
Martin Gruber spürt den sozialen Konflikten mit einem unerbittlichen Blick nach. Seine Abhandlung der Übersättigung gelingt wieder dynamisch und unterhaltsam. Doch diesmal wird sie auch mit Brachialgewalt vorgeführt. Die Lautstärke der Akteure wird von Musik und dem Gesang von Pete Simpson, der am Bühnenrand im Dunkeln sitzt, verstärkt. Man leidet mit, wenn Benjamin die schmelzenden Schokoladetafeln in den Mund stopft. Man sieht ihm den Ekel an. Und, wie gesagt, bei mir hatte dieses Bild durchaus Vorbild-Wirkung. (Aber bei diesen Temperaturen ist ohnehin Eis angesagt …)
Nach 70 Minuten bin ich erschlagen und auch etwas ratlos. Habe ich gerade eine Versammlung von Egomanen gesehen, die am Rande des Wahnsinns entlang balancieren? Ist dieses homogen weiße Österreich auf der Bühne wirklich ein Spiegelbild unserer heutigen Gesellschaft? Fabian spricht es an: „Das Kosmopolitische liegt nicht in unserer Natur.“ Und doch ist es mitten unter uns. Auch wenn es beim Aktionstheater Ensemble diesmal weitgehend ausgeblendet wird.
Aktionstheater Ensemble: „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“, Wien-Permiere am 12. Juni 2019 im Werk X.