Aus der Ordnung ins Chaos. Sieben TänzerInnen, ein Maler und ein Opernsänger untersuchen in Elio Gervasis jüngster, im November beim „tanz ist Festival“ in Dornbirn uraufgeführten Choreografie „Incorpo-ratis“ die Auswirkungen der Umbrüche und Neuordnungen unserer Zeit. Und deren Potential. Diese disziplinär polyphon angelegte Arbeit ist ein ganzheitlicher Genuss.
Es wummert bereits. Die Zuschauer sitzen sich gegenüber. Die PerformerInnen hocken und sitzen auf der einen Seite, hinter ihnen kleben fünf große Papiermenschen an der Wand, daneben ein sechster, schwarzer, gegenüber eine riesige auf Pappe gemalte Mauer mit verstreuten Buchstaben, Zahlen und menschlichen Umrissen. Davor arbeitet ein Maler. Die TänzerInnen werfen ein Bündel verschieden langer dünner Plastik-Rohre auf die Bühne. Das Setting von Valter Esposito und Elio Gervasi lässt den Gegenstand dieser Arbeit bereits durchscheinen. Die Stangen werden zum Symbol des Ringens um Klarheit, des Widerstandes gegen die Macht der Unordnung. Immer wieder verwerfen sie die zuvor gelegten Strukturen und ordnen die Stäbe neu, anders. Von der Brandung des Lebens überspülte Sehnsüchte.
Mit kantigen Bewegungen führen sie sich ein, die sieben TänzerInnen. Federica Aventaggiato, Luna Cenere, Chiara Corbetta, Laurent Delom De Mezerac, Riccardo De Simone, Soul Roberts und Lotta Sandborgh tanzen in wechselnden Konstellationen verschiedene Charaktere mit teils deutlich herausgearbeiteten konstitutionellen Prädispositionen. Vereinzelung und Vereinsamung, die Suche nach Nähe und Kommunikation, der Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit in den Wirrungen des Lebens und letztlich das völlige Entgrenzen tanzen sie mit Bravour.
Herausragend aus der durchwegs hochkarätigen Compagnie und diese habituell rahmend agieren Lotta Sandborgh und Luna Cenere. Sandborgh, die sich sinnträchtig viel am Boden bewegt, wird zum Ende hin von einem Kollegen im Kreis geschleudert, dass man schon beim Zuschauen jede Orientierung verliert. Und dann sinkt sie zu Boden, bleibt regungslos liegen. Diesem ohnmächtigen Ausgeliefertsein stellt Luna Cenere eine starke, selbstbewusste Figur gegenüber, deren Tanz die Wogen und Wirren der Zeit umspülen, ohne diesen Fels tatsächlich zu bewegen. Dass es Frauen sind, die diese beiden Pole repräsentieren, richtet den Finger auf die Verursacher der Turbulenzen, die unsere männlich dominierte Welt erschüttern.
Die Kunstformen arbeiten auf ihre Weise mit dem Stoff. Der Maler (Valter Esposito) koloriert einen der auf die Mauer aus Pappe gemalten menschlichen Umrisse. Der Sänger (Claudio Covato, ein gelernter Tenor), artikuliert das Zerbrechen der Gefüge mit eingeworfenen Stimm-Fetzen und sprachlichen Intermezzi auf italienisch. Brillant. Die sieben TänzerInnen spielen Mikado und ordnen die Stäbe immer wieder neu, um sie am Ende zu zerschlagen, weil jeder Versuch einer Strukturierung sinnlos erscheint. Der Sound des Kontrabassisten Alessandro Vicard gibt in einer kongenialen Dramaturgie das akustische Abbild des Bühnengeschehens. Mit Elektronik, Kontrabass und orchestralen Zitaten begleitet er den getanzten und gesungenen Zerfallsprozess. Dezent, aber wirkungsvoll das Licht von Markus Schwarz.
Ein großes Verdienst Elio Gervasis ist seit jeher die Rekrutierung internationaler TänzerInnen, deren hohes künstlerisches Niveau er mit seiner ambitionierten Arbeitsweise und seinen anspruchsvollen Choreografien weiter hebt. Die Verbindung von zeitgenössischem Tanz, seinem Metier seit über 30 Jahren, mit anderen Kunstformen, über die Musik hinausgehend, stellt eine wesentliche Erweiterung und einen markanten Fortschritt in seinem Schaffen dar. „Incorpo-ratis“ ist frisch, mit überraschend konkretem Sujet und viel Raum für individuelle Klasse. Die Indifferenz der Einordnung weicht der Konkretheit kreativer Individualität, denn die Freiheit von Ordnung ist auch die Freiheit zu befreitem Selbstausdruck. Das Publikum feierte diese Wiener Erstaufführung.
„Incorpo-ratis“ von Elio Gervasi am 5. Dezember 2019 im Off-Theater. Letzte Vorstellungen 7. Dezember