Fast ganz Graz war unterwegs, um am Eröffnungsabend des dreiteiligen Programms von Cirque Noël dabei zu sein: Um bei der Graz-Premiere von „Passagers“ der hier nun schon wohlbekannten und überaus geschätzten kanadischen Cirque Nouveau Gruppe „The 7 Fingers“ die Ehre zu erweisen; und, um 90 Minuten lang in begeistertem Staunen vereint zu sein – als 6 wie auch als 90+ Jähriger.
Leben ist Bewegung, ist Unterwegs-Sein, ist Ankommen und Abschiednehmen, Ortswechsel und Da-Sein. Ist Beobachten, sich Konfrontieren und Kommunizieren, ist Zusammenarbeit und Einzelwerk. Um all diese und weitere Phänomene unseres Lebensweges fädeln diese vielseitigen 8 Ausnahme-Künstlerinnen unter Leitung und nach der Choreographie von Shana Caroll und der Assistentin Isabelle Chassé ihre Gedanken in Tanz-, Theater- und Akrobatik-Perlen assoziationsreich auf.
Atmosphärisch gehen sie zeitlich ein paar Schritte zurück: In ein Damals, als Zugfahren einerseits noch ein aufmerksam wahrgenommenes und emotional begleitetes Tun war. Eines, bei dem (in Zeiten ohne Mobiles) Zeit zum Schauen, (gegenseitigem) Beobachten und auch zum Träumen blieb.
Diese Potentiale nützen die Künstler in zauberhaften statischen kleinen, feinen oder aber auch etwa in humorvollen Bewegungs-Bildern - und „kaschieren“ derart ein paar Male damit eigentlich nur einen diskreten Umbau im Hintergrund. A propos Szenenwechsel: Zumeist wird dieser zu einer detailliert inszenierten, kongenialen Mini-Dramaturgie aus Soli und dynamisch choreographierten Gruppenformationen, also zu kleinen, gleichermaßen spritzig glitzernden Perlen für sich.
Andererseits entsteht in diesem Damals das, was man Langeweile nannte: Kreativität zwecks Überbrückung war also gefragt – woraus sich in diesem „Zirkus-Märchen“ eine der zauberhaftesten Geschichten überhaupt entspinnt. Die eines großen Buben, der, lustlos im „Abteil“ neben anderen, irgendwie Beschäftigten sitzend, einen kleinen Ball „findet“ und zu spielen beginnt. Eine Jonglage-Szene wird entwickelt, wird kreiert (bei der selbstverständlich auch die anderen Reisenden einfallsreich einbezogen sind), die in ihrer Technik sowie ihrem Charme ihresgleichen (wahrscheinlich vergeblich) sucht.
Dass auch Sprachliches, ja Wissenschaftlich-Theoretisches nicht nur mitspielen darf, sondern es sogar in kurzweiliger Weise (und zum Thema des Unterwegs-Seins, also des Zeit-Ort-Faktors passend) kann, das zeigt sich in einer (ja) unterhaltsam-spannenden Erörterung über die Relativitätstheorie. Und eben dieser didaktisch fundierte „Pädagoge“ schreitet kurz darauf auf einer schräg bis immer steiler angehobenen Stange an deren oberen Ende, um von dort aus seinen meditativen Stangen-Tanz der geschmeidigsten, körperbeherrschungstechnisch anspruchsvollsten Art zu beginnen, poetisch in den Raum zu zaubern.
Bilder, die mit dem weichen Fluss langsamer, tänzerisch zielgerichtet-geführter Bewegungen der Vertikal-Tuch-Künstlerin in formaler Verbindung gebracht werden können.
Dass herausragende Zirkusakrobatinnen ganz ausgezeichnete Liedinterpretatorinnen sind, lässt nach den großen Augen auch noch die Ohren weit und genießend öffnen – soweit das noch möglich ist bei der insgesamt überaus stimmigen Musik (Colin Gagné). Dass Video Design (Johnny Ranger), das teilweise den gesamten Bühnenhintergrund umfasst, sich derart unaufdringlich wie überzeugend „ergänzend“ (was kann bei diesem dichten Programm denn eigentlich noch ergänzt werden?!) einzugliedern, ja einzufühlen versteht, macht einen weiteren Zauber innerhalb dieses fulminanten Gesamtkunstwerkes aus.
Eines, das ebenso unprätentiös beginnt wie es sich entwickelt und endet: mit leisen Hinweisen auf Facetten dessen, was unseren Weg, unser Unterwegs-Sein zwischen Ankommen, Warten, Erfahren und Abschied-Nehmen ausmacht. Etwas, was „mittendrin“ überraschend abbrechen kann. Wie letztlich auch diese Präsentation, der man nicht müde geworden ist zuzusehen. Und für die man sich daher nun nur mehr spontan und innerhalb kürzester Zeit zum Schlussapplaus vom Sitz erhebt - wie alle anderen in diesem Theater auch.
Cirque Noel 2019: The 7 Fingers: „Passagers“, Premiere am 21. Dezember 2019 im Theater in der Stadthalle; weitere Vorstellungen bis 2.Jänner 2020;
Compagnia Baccalà: „PSS PSS“, Premiere am 23. Dezember 2019 im Orpheum Graz; weitere Vorstellungen bis 29.Dezember
Cirkus Younak, Premiere am 2. Jänner 2020 im Orpheum Graz; weitere Vorstellungen bis 5. Jänner 2020