Auf verschlungenen Pfaden. Die in Marseille beheimateten KünstlerInnen Anne Lise Le Gac und Arthur Chambry stellten als letzte Vorstellung vor der Corona-induzierten Zwangspause ihre jüngste Arbeit „Ductus midi“ als österreichische Erstaufführung im Tanzquartier Wien vor. Ohne Anfang und Ende, ohne Start und Ziel reisen wir mit vier PerformerInnen. Und bleiben am Ende doch klüger.
Anne Lise Le Gac war bereits mehrfach in Wien zu Gast. So wurden ihre Arbeiten „Grand Mal“ und „La Caresse du Coma“ Ende Jänner 2018 als Österreich-Premiere anlässlich der TQW-Wiedereröffung unter Intendantin Bettina Kogler aufgeführt. Gemeinsam mit dem Musiker und Performer Arthur Chambry konzipierte die in Visual Arts, Tanz, Choreografie und Performance ausgebildete Le Gac „Ductus midi“ (midi nennen die Franzosen den Süden ihres Landes). Die gebürtige Griechin und in Paris lebende Tänzerin und Choreografin Katerina Andreou und der Vogelstimmen-Imitator Christophe Manivet als Ko-EntwicklerInnen und -PerformerInnen treten erst im Laufe des Geschehens auf die Bühne.
Auf der zeichnet Le Gac bereits beim Betreten der Halle G verworrene weiße Linien auf den Boden. Sie trägt weiße, selbstgemachte Schuhe mit hohen Noppen. Die verhindern Bodenhaftung. Chambry singt mit Auto-Pitch (dabei wird die Tonhöhe elektronisch korrigiert, so dass nur reine, der jeweiligen Tonart entsprechende Töne entstehen). Zeitgemäßer Ausdruck der Sehnsucht nach Vollkommenheit. Auf der Bühne hängen und stehen ein riesiger Bauschaum-Gong, Topf und Kocher, Technik-Pult und Springbrunnen, Ziegelsteine und blau-weiße Stoffbahn aus dem Himmel.
Und dann erzählen sie Geschichten. Le Gac baut sich einen Schuh aus gewässerter Knetmasse, tanzt asiatisch mit Kampfsport-Lookalike. Chambry baut den Schlägel selbst, mit dem er der schaum-geschützten Scheibe ihre dröhnende Stimme entlockt, auch die elektronisch in die Künstlichkeit gerückt. Er trommelt Buchstabenketten wie Maschinengewehr-Salven auf die Leinwand. „Der Weg ist das Ziel.“ Und trommeln lernte er beim Museums-Job. Andreou tritt aus dem Publikum hinzu, sie tanzt Disco-Urban-Zeitgenössisch. Dann alle drei, kantig ihre Bewegungen. Andreou singt Auto-Pitch, feuert in Höchstgeschwindigkeit Sätze ins Publikum. Wieder viel Text auf der Leinwand. Von Australien, einem Gemälde, nein, einer Landkarte, und du wirst deinen Weg finden, innen. Vom Palast der Erinnerungen und anderen Dingen schreiben sie zu elektronischem Sound. Manivet betritt zwitschernd die Szenerie, unterhält sich mit den elektronischen Trommel-Tönen Chambry's. Natur und Kultur kommunizieren. Anne redet mit dem Vogel. Und Arthur singt mit ihm, Autopitch. Anne singt unverfremdet von so vielem. Von der Freiheit von iPhone und Konsum und dass sie chillt in einem Ozean von Arnika. Auf dem Herd brennt etwas an. Video. Text. Sie will Keramik nicht wegwerfen, nur weil sie zerbrochen ist.
Das inspiratorische Fundament von „Ductus midi“ beschrieb der britische Anthropologe Tim Ingold in seinem Buch „Lines: A Brief History“, in dem er zwischen Mitfahrenden, die von A nach B wollen, und Reisenden, die offen sind für spontane Begegnungen und Änderungen, unterschied. Aus vielerlei Richtungen nähert sich „Ductus midi“ dem Thema Freiheit. Es scheint keine formellen oder Genre-Grenzen zu geben. Sie unterwerfen sich keinerlei vor allem selbst gesetzten Beschränkungen. So vielfältig wie die Wurzeln von und der individuelle Umgang mit Unfreiheit ist ihre Formensprache. Zwischen atemloser Hatz durch das Leben und Gelassenheit ist sie konsequent in Form gegossener Inhalt. Ohne zu suchen die Dinge zu finden. Kommen zu lassen und hin- und anzunehmen, was sich einem über das Außen vom Innen vermittelt. Sie sehen die Poesie in den Dingen, die Mystik in den Begebnissen. Bühnenbild, Text, Musik, Gesang, Video, Darstellung und Tanz verschmelzen die vier PerformerInnen zu einer poetischen Einheit, die viele Geschichten enthält und vielleicht doch nur eine erzählt: Die von der Reise in die Freiheit.
Wenn am Ende alles wie am Anfang scheint, wenn sie die inzwischen zu Staub getrockneten weißen Pfade mit einem Fächer zerwedelt und der Autopitch-Gesang erneut ertönt, dann wohl, weil es ist wie mit allen unseren Leben.
„Ductus midi“ von Anne Lise Le Gac & Arthur Chambry am 11. März 2020 im Tanzquartier Wien.