Das VR-Brillen-Erlebnis „shifting_perspective“. Immersiv heißt das magische Zauberwort. Virtuelles – also Nicht-Reales – soll einen so starken Reiz ausüben, dass eine neue Realität entsteht. Zumindest eine, die nichts vermissen lässt – außer einem nachhaltigen Gemeinschaftserlebnis, das Darstellender Kunst sonst innewohnt.
Das Staatstheater Augsburg hat schon vor der Krise in diese Richtung gedacht. Im Hinblick auf die im Mai geplante und nun in die Ungewissheit der nächsten Spielzeit verschobene Opernproduktion von Glucks „Orfeo ed Euridice“ wurde eine größere Anzahl von hochwertigen Virtual-Reality-Brillen angeschafft. Zur Erweiterung der inszenatorischen Möglichkeiten. Und für eine in Aussicht genommene neue Sparte für digitale Theaterwelten. Manchmal dienen verrückte Zeiten als Beschleuniger von Zukunftsplänen. So entstand der VR-Theater-Lieferservice. Nach einem kurzen Video-Tutorial auf der Augsburger Staatstheater-Homepage kann es losgehen. Ideengeber André Bücker, Intendant des Hauses, erläutert alles Notwendige.
Allerdings ist es schon paradox, wenn man plötzlich ein Theatererlebnis direkt nach Hause geliefert bekommt. Auswählen, bestellen, bargeldlos bezahlen und abwarten, bis das gebuchte Paket von Mitarbeitern des Theaters an der Wohnungstür abgegeben wird. Darin befindet sich eine fast nagelneue VR-Brille. Sie braucht weder Internet noch Strom. Der eigene Computer kann sich vom vielen Streamen erholen. Man muss das wuchtige, bereits desinfizierte Ding nur noch aufsetzen, Kopfhörer ins Ohr stecken und mit ausreichend Beinfreiheit auf einem Drehstuhl oder Hocker Platz nehmen. Knopfdrucklos startet die virtuelle Reise durch die 360-Grad-Perspektive der Augsburger Martinipark-Bühne. Eigentlich toll. Überraschend leicht handhabbar. Auf jeden Fall eine super Idee.
Nach dem Schauspielmonolog „Judas“ bringt „shifting_perspective“ jetzt sogar das Augsburger Tanzensemble heim zum Publikum. Bedauerlicherweise stets bloß zu einem Zuschauer allein. Dafür haben die Tänzerinnen und Tänzer auf elektronische Musik des Briten Robin Rimbaud sehr individuelle, bisweilen skurrile, fast gespenstische oder in ihrer Einsamkeitsgestik anrührende Tanzsolos improvisiert. Ganz unmittelbar wenden sie sich immer wieder mit intensiven Blicken und Handbewegungen an den Betrachter. Tauchen unerwartet und oft sehr dicht vor, hinter oder unter diesem auf. Ohne einen sonst üblichen choreografischen Gesamtschliff, was der Produktion eine recht spontane Wirkung verleiht.
Der Clou von „shifting_perspective“ besteht darin, dass man sich nach Aufsetzen der VR-Brille ungefähr einen Meter über dem Boden schwebend in der Bühnenmitte befindet. Vor sich in der Schwärze erahnt man den leeren Zuschauerraum – zunächst einsam dem grellen Licht der Scheinwerfer ausgesetzt. Dann erscheint plötzlich die erste Interpretin, schlängelt sich akkurat durch den Raum, windet und dupliziert sich filmisch. Um den Anforderungen der Kontaktsperre zu entsprechen, wurden jeweils nur ein bzw. maximal zwei der insgesamt 16 Ensemblemitglieder zugleich aufgenommen, einige Sequenzen mehrfach gefilmt und später für das virtuelle Seherlebnis übereinander gelegt. Außer solistischen Eindrücken wird so auch ein energisches Umtanzen durch drei Männer möglich. Am Ende werfen sie sich einem rücklings zu Füßen hin. Wie krass wäre es erst, wenn eine größere Gruppe um einen herumjagen würde. Der Beobachter hat die Freiheit und muss selbst in Bewegung bleiben. Keinerlei Theatersessel-Phlegmatik – 45 Minuten lang. Beim Verfolgen der nacheinander aus unterschiedlichen Ecken und Blickwinkeln Auftretenden dreht man sich permanent um die eigene Achse und folgt mit dem Kopf.
Für die Außenwelt blind und taub verkapselt, lässt sich die eindrucksvolle Nahkontakterfahrung inmitten der Abfolge kurzer Improvisationen leider nicht mit anderen teilen. Da das gesellige Miteinander derzeit ohnehin auf ein Minimum reduziert bleiben soll, einerseits eine Tugend, andererseits auch nicht unbedingt ein Anreiz. Gewiss jedoch ein findiges Angebot, den Zusammenhalt zwischen Zuschauer und Performer aufrecht zu erhalten. Bis auf weiteres. Auf Sparflamme. Über eine Durststrecke hinweg. Langfristig sicher kein Ersatz für ein Real-Live-Erlebnis vor Ort. Die gute News zum Schluss: War das mediale Ein-Kopf-Totaltheater bis in den Mai hinein lediglich auf Interessenten mit Wohnsitz in der Fuggerstadt begrenzt, so sind fortan alle VR-Inszenierungen des Staatstheaters Augsburg auch über die Stadtgrenzen hinaus buchbar: entweder als Lieferservice für Augsburg und die Region, oder als ortsunabhängiges Video-on-Demand für all jene, die über eigene VR-Brillen verfügen.
Das Bestellformular für das ortsunabhängiges Video-on-Demand und für die eigene VR-Brille auf der Homepage www.staatstheater-augsburg.de