Gibt es Verbindendes zwischen geometrisch definierter Struktur, zwischen künstlerisch intendierter und durchwirkter Architektur und tänzerisch freier Bewegung? Ja, lautet die klare Antwort nach der Uraufführung von „Lebendige Formen“, einer Choreografie von Valentina Moar, die sie konzeptuell als Tanz-Partnerin von und mit Pierre-Yves Diacon (CH) sowie mit Video Artist und Interaction Designer Paolo Scoppola (IT) realisiert.
Inspiratorischer Ausgangspunkt für die mit Graz eng verbundene italienische Künstlerin war die Welt des steirischen Architekten und Bauhaus-Schülers Hubert Hoffmann; seine in Notizen, Skizzen, Zeichnungen und Architekturplänen umgesetzte Welt seiner Gedanken so wie der ihm relevanten Linien und Formen.
Wenn in der Anfangsszene die beiden Tänzer mit dem Rücken zum Publikum minutenlang die auf die Hinterwand der Bühne projizierten, in Umrissen skizzierten Blumen betrachten, wird die Ernsthaftigkeit, die hinter diesem, ihrem großen Projekt steht, jedem im Publikum bewusst, ja greifbar. Mit jeder kleinen Bewegung, die auf der Bühne langsam sichtbar wird, scheinen die beiden Künstler die Formenwelt entschlüsseln zu wollen – und die ruhig gewordenen Zuseher gleiten mit ihnen hinein als schauend Suchende.
Die tänzerische Annäherung erfolgt vorerst in strengem, geometrisch ernstem, emotionslosem individuellen Fließen, das nichtsdestoweniger durch die Intensität der konzentrierten Bewegungen packt, berührt und mitnimmt.
Wenn Diacon in seinem nun folgenden ersten Solo mittels Motion Tracking eine weitere, grafisch definierte Dimension erhält, hat die Linie ihre Weg auf die Bühne entdeckt; hat sie in Form eines Kreises, einer auf die Leinwand projizierten Scheibe zum Menschen gefunden; ist ihm Spielball geworden – motivierend, herausfordernd und inspirierend. Bis sie schlussendlich ihn, den Menschen, vollständig umgibt, einhüllt, erfasst. Faszinierend, wie Scopolla diese für Hoffmann und seine Kreationen stehenden Bilder in Interaktion mit dem Tänzer in im Grunde einfacher Weise auf die Leinwand zaubert; wie das Spiel, die Auseinandersetzung mit der Form zum beherrschenden (Tanz-)Thema wird.
Nach filmartig scharfem Schnitt ist es dann eine gänzlich andere Formen- und Bewegungssprache, wenn aus gebogenen Linien Gerade entstehen, sich ordnen und fügen und der Tänzer in kraftvoller Dynamik geradezu kontrapunktisch sich diesem Neuen, dieser Statik entgegenstellt, -tanzt.
Dass Valentina Moars Auseinandersetzung mit dem bildenden Künstler sich in der ihr so eigenen, ungewöhnlichen Bewegungsführung, in ihrer hochsensiblen Gelenkigkeit manifestiert, war zu erwarten und wird vom Multimedia-Künstler adäquat in feinsten strukturellen Linienführungen auf die Leinwand übertragen. Lineare Konstrukte im Bewegungsfluss – ein visuelles Erlebnis. Von Zeit zu Zeit (ergänzt durch wohlbekannt schmeichelnde Klaviermusik) überfordert es in Kombination mit der realen Tänzerin nahezu die emotionale Aufnahmefähigkeit.
Ein opulentes Zusammenspiel ihrer Bewegung und den projizierten Linien gelingt den Künstlern in und mit einem außergewöhnlichen Pas de deux, den sie in zumeist großer Distanz zueinander wirken lassen; Moar wendet überdies dem Publikum dabei längere Zeit den Rücken zu: die Kompaktheit dieser Szene hat Seltenheitswert – was letztlich auch für die gesamte, multimedial überaus stimmige Produktion gilt.
Valentina Moar „Lebendige Formen“, UA, 1. September 2020 im Lesliehof im Joanneumsviertel, Graz im Rahmen von La Strada Graz