Live-Musik begrüßte schon im Foyer des Grazer Opernhauses das Publikum, das bekanntlich seit rund einem halben Jahr, also Corona-bedingt, hier und auch andernorts keine Veranstaltungen live erleben konnte. Entsprechend erwartungsvoll die Stimmung, auch wenn ob der geltenden Maßnahmen (Maskenpflicht, Abstandhalten etc.) eine gewisse Verunsicherung nicht zu ‚überspüren‘ war.
Das „Go!“ einschließlich des Rufzeichens im Titel der Eröffnungspremiere hätte nicht passender sein können: ob als Aufforderung zur Aktivität von künstlerischem Tun oder aber zum endlich wieder möglichen Rezipieren von Kunst; oder als Ausruf der Freude und Erleichterung ganz allgemein im Sinne von ‚es geht (wieder) los‘, ist wenig von Bedeutung.
Im Grunde umso erstaunlicher aber, dass dann, in der eigentlichen Aufführung, über längere Strecken sehr vorsichtig und zurückhaltend vorgegangen und agiert wird: So hob sich - nach organisatorischen Ansagen über Lautsprecher – als „Beginn“ lediglich leise und vorerst kaum merklich der Eiserne Vorhang und gab den Blick auf eine weit offene, eher dunkel gehaltenen Bühne frei; und damit auf eine rechteckig mit einfachen Stühlen begrenzte Tanzfläche, auf eine Art Tanzsaal also und damit auf das, was ohne (ablenkende) Verbrämung nun im Mittelpunkt sein sollte: Musik und Tanz. Gut so (Ausstattung: Silke Fischer).
Ein alter Plattenspieler wird unter Knirsch und Knarz in Gang gesetzt, verstreute Gestalten beginnen sich langsam auf dem Tanzboden zu bewegen, nach und nach auch ein wenig zu tanzen: viel Zeit zum Ankommen - soweit so gut. Dann wird es hell auf der Bühne; ohne große Änderungen allerdings im Geschehen. Und damit wird auch oder gerade nach einem halben Jahr der „Kunst-Abstinenz“ das Ankommen ein bisschen sehr lang. Auch, wenn das langsame Hineingleite-Lassen durchaus Methode hat. Etwa, wenn der „Diskjockey“ nahezu unbemerkt ein gerade gespieltes Lied mitzusingen beginnt und schließlich, lauter werdend, mit weit kräftigerer Stimme und im wahrsten Sinne von nun an allein den (gesungenen) Ton angibt: Bariton Ivan Oreščanin, zur Freude des Publikums und derart begeisternd, dass es mehrmals Szenenapplaus gab für seine Art der unaufgesetzt darstellerischen, hoch emotional-gekonnten Lied-Interpretationen der Tango-Musik von Astor Piazzolla und anderen. Musik, deren instrumentale Seite vorerst vergleichbar diskret einsetzt, aber dann gleichermaßen congenial und fulminant mitnimmt: interpretiert am Akkordeon von Goran Kovačević.
Der von Ballettdirektorin Beate Vollack choreografierte „Tanzabend“ erzählt lose aneinandergereiht in 13 Tänzen von dem, was im Lied „Historia de um amor“ von Guadalupe Pineda und im Text von Carlos E. Almarán thematisch umrissen wird: Sehnsucht, Leidenschaft, Schmerz, Finden und Gehen. Musikalisch intensiv wissen es die beiden Klangkünstler in ihre Sprache umzusetzen, wobei der Sänger-Tänzer oder eher doch Tänzer-Sänger Oreščanin noch sein gestisch-mimisches sowie tänzerisches Können wohlintegriert in das Agieren der 18 TänzerInnen draufzulegen versteht; auf und in eine Choreografie, in der eine Verbindung und /oder ein stimmiges Nebeneinander und Miteinander von klassischem Ballett und Tango angestrebt wird. Ein mutiger Versuch, der vom motivierten und gut disponierten corps de ballet so manches Mal sehr wohl gemeistert wird, in der einen und anderen Szene aber doch in der ihnen vertrauten klassischen Attitude bleibt und somit in dem Tango verschriebenen Passagen das charakteristische Temperament und erotische Spannungskraft vermissen lässt. Ihre Stärken können sie vor allem in Szenen der Suche, der Melancholie, des Glücks zeigen; in solchen des „Geschlechter-Kampfes“ etwas weniger.
Choreografisch begeistert die Vielfalt in den Mann-Frau Konstellationen. Thematisch im Tango einerseits bestens begründet im Miteinander der Männer (Yannick Neuffer, Giulio Panzi) oder aber auch, wenn etwa ganz wunderbar eine Frau „Heerscharen“ von Männern am Gängelband führt; oder aber drei Frauen, (Isabel Edwards, Miki Oliveira, Marina Schmied) um den einen Mann (Philipp Imbach) buhlen. Überzeugend immer wieder die dem Tango fremden, mehrfach gut synchronen Tanzszenen des corps de ballet, die auch inhaltlich dicht (prickelnd aufgeheizt-animierende Tanzsaalatmosphäre) und zum Teil spannungsgeladen sind. Abwechslungsreich und schwungvoll immer wieder die wechselnden Konstellationen zwischen einzelnen Paaren und dem sich integrierend eingreifenden Sänger: da blitzt Erotik auf. Nicht zu vergessen aber auch die Soli einer Stephanie Carpio im Prolog oder Frederico Oliveira („el adiós) oder gar das berührende Pas de deux von Lucie Horná und Paulio Sóvári.
Zurückhalten, mit aber nichtsdestotrotz markanten, überlegt gesetzten Akzenten das Licht von Johannes Schadl; wohltuend schlicht in Rot und Schwarz die klar geschnittenen und ebenso szenisch strukturierenden Kostüme Silke Fischers. Viel Applaus für ein ästhetisch gelungenes Wiedereröffnungs-Programm.
Ballett der Grazer Oper: „Tan(z)Go!“, Tanzabend von Beate Vollack, Opernhaus Graz, Premier am 19. Mai 2021. Weitere Vorstellungen: 22. Mai, 2., 6., 10., 13. Juni