Eine Autorität des zeitgenössischen Tanzes bewegt sich in Spiegelungen. Die Schweizerin Anna Huber zeigte ihr 1998 entstandenes Solo „unsichtbarst“ in einer nur wenig verändernden Überarbeitung im Rahmen des SWISS FOCUS des ImPulsTanz-Festivals im Wiener Leopold Museum. Das Setup, der sehr hohe Raum erforderte Anpassungen des Lichtdesigns, und ihr Tanz verführten zu physisch-skulpturaler Wahrnehmung. Doch mit der Reduktion auf ihre Körperlichkeit bleibt das Eigentliche unsichtbar.
Auf einem großen spiegelnden Quadrat liegt mittig ein kleiner Spiegel. Filzpantoffel stehen am Rand. In sie hinein, ins Vertraute geschlüpft beginnt sie, die zarte, ganz in schwarz gekleidete Frau die Betrachtung ihrer selbst im kleinen Handspiegel, spielt mit Wangen, Lippen, Zunge, schneidet Grimassen, lächelt, kokettiert. Ein kurzer Aufschrei. Sie knetet ihr Gesicht, schaut fragend durch den Spiegel ins Publikum. Seht ihr mich auch (so)?
Der Sound von Wolfgang Bley-Borkowski kratzt. Hüpfen. Klassische Einwürfe. Die Hände untersuchen den sich bewegenden Körper, der sich in unglaublicher Flexibilität verdreht und verbiegt. Fast bis zur Unkenntlichkeit. Hinein in die Entfremdung. Halliges Staccato. Klänge tropfen. Sie vermisst ihren Körper mit den Händen. Fäuste vor den Augen. Was sehe ich nicht? Sie tastet mit den Zehen nach den Rändern des Spiegels. Legt ein Bein, die Schultern frei. Kauert still in der Ecke. Da gibt es doch noch mehr. Eine weiche, fließende, wie eine kurze Erinnerung an etwas Verschüttetes getanzte Sequenz folgt.
Ihr Kostüm erweist sich als äußerst dehnbare Haut, aus der zu fahren nicht gelingen will. Mut braucht es, sich herauszubewegen aus dem Gewohnten, Sicheren, dem Vertrauten zu misstrauen. Außen, um den Spiegel herum, strauchelt sie. Kurz zurück in die Pantoffel. Auf sicherem Terrain probiert sie Neues. Wiederholt, verfährt sich zu kreischendem Sound. Als sie sich auf einen freien Hocker zum Publikum setzt und lange auf die leere Bühne schaut, als sie sich selbst zum Beobachter macht, vermeint man das Ende der Performance zu erleben. Zögerlich setzt Beifall ein. Doch wir irren.
Sie tanzt ihre Verstrickungen, findet ein Gleichgewicht und schaut sich an im Spiegel ihrer Vergangenheit. Was hat das älter Werden mit mir gemacht? Wie fühle ich mich jetzt? Wie Kleinkinder im hallenden Tunnel schickt sie Töne ins Draußen. Ich spüre mich, bin lebendig, bin da! Sie tanzt, dreht sich weich, wie erlöst. Zeigt Schultern und Beine. Drei Lichtflächen werden auf den Spiegelboden projiziert.
In Zürich geboren, ausgebildet unter Anderem in Butoh bei Kazou Ohno, im Solotanz bei Susanne Linke, im zeitgenössischen Tanz bei Saburo Teshigawara und bezüglich Performance bei Meg Stuart, lebte und arbeitete Anna Huber von 1989 bis 2008 in Berlin. Dort entwickelte sie sich zu einer herausragenden Persönlichkeit des zeitgenössischen Tanzes im deutschsprachigen Raum. Seit 1993 choreografiert sie eigene Stücke, Soli, Duette und Gruppenarbeiten. Die viel gelobte Präzision der inzwischen 56-Jährigen, ihre formale Bestimmtheit, ihre Präsenz und, bei aller Fragilität, Intensität prägen auch „unsichtbarst²“ in dieser österreichischen Erstaufführung.
Anna Huber gelingt es, ihr Selbstbild als ein doppelsinniges Fremdbild zu begreifen. Einerseits als ein dem Wirken fremdinduzierter innerer Instanzen ausgeliefertes Wesen. Andererseits als eine ihre Emotionen Reflektierende und darüber ihr Fremdsein gegenüber ihrem Eigentlichen, dem Unsichtbaren, Wahrnehmende. Sich in Frage stellend, untersuchend, auszuprobierend, mit leisem Humor und zärtlicher Selbstironie, wird ihr sich mit dem älter Werden wandelnder Körper zur Inkorporation seelische Reifungsprozesse.
Die Hände führt sie in einer maximal großen vertikalen Kreisbewegung aus der gestreckten Haltung hinter sich, unter ihren Füßen hindurch, bevor sie vor ihr gen Himmel flattern. Mehrfach umfängt sie ihr So-Sein. Integration von allem, was sie ist, von Körper, Geist und Seele. Und sie macht sich lächelnd auf zu Neuem, Unbekanntem. Den Weg zu erkennen ist das Ziel. Wer sich auf diesen Weg begibt, macht sich auf in den Himmel auf Erden.
Anna Huber mit „unsichtbarst²“ am 31. Juli 2021 im Leopold Museum im Rahmen von ImPulsTanz.