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Horta REVISITEDEin Rückblick auf das Jubiläumsprogramm 2021

Soll man an Erfolgskonzepten rütteln? Seit 1991 unterstützt das Kulturreferat der Landeshauptstadt München ein in der regionalen Tanzlandschaft einzigartiges Format: die Tanzwerkstatt Europa. Ein bis heute von Walter Heun zweigleisig ausgerichtetes Sommerevent mit Performances und Workshops. Letztere sprechen in ihrem auf aktuelle Entwicklungstendenzen abgestimmten Mix Laien ebenso an wie Profis. 

Im Jubiläumsjahr kam mit Stephan Herwigs „Dance for the Golden Ages“ explizit ein Kursangebot für Senioren hinzu. Zudem wollte man die Inklusionsbewegung mit vorantreiben. So wurde erstmals die gehörlose Tänzerin und Choreografin Kassandra Wedel mit ihrem Seminar „Visual Music“ ins diesjährige Dozententeam geholt. 

Der US-Amerikaner Jess Curtis – er gründete im Jahr 2000 in Berlin die Performance-Firma „Gravity Access Services“ – ist dagegen auf Audiodeskription spezialisiert. Wie das im Tanzbereich funktioniert, und was das komplexe Arbeitsfeld konkret alles beinhaltet, erfuhren seine Kursteilnehmer in praktischen Übungseinheiten, den aufschlussreichen Erfahrungsaustausch mit dem erblindeten Fotografen Gerald Pirner sowie anhand zweier gemeinsamer Besuche von Moritz Ostruschnjaks endlich in der Philharmonie im Gasteig live gezeigten Vorstellung „Yester:Now“. Ganz nebenbei handelte es sich bei dieser Aufführungsserie um die letzten öffentlichen Vorstellungen in diesem Saal vor dessen Generalsanierung.

Mozart revisited von Rui Horta, Micha Purucker und Thomas HauertPurucker REVISITED

Doch Walter Heun ist anlässlich des 30. Geburtstags noch weitere Schulterschlüsse eingegangen. Unter anderem bei der Idee, zurück auf das allererste Projekt zu schauen, das letztlich den Stein ins Rollen gebracht hatte: eine Recherche rund um Mozart zu dessen 200. Todestag, an der vier europäische Choreografen beteiligt waren, für die – wie damals in der Szene generell – Kreationen zu klassischer Musik eigentlich nicht in Frage kamen.  Der Portugiese Rui Horta und der gebürtige Würzburger Micha Purucker – beide 1991 an der Schwelle zu internationaler Bekanntheit – waren darunter. 

Für die 30. Ausgabe des Festivals mit Werkstattcharakter haben Horta und Purucker nun ihre alten Stücke mit Tänzern des Staatstheaters am Gärtnerplatz neu einstudiert. Einer Bande formidabler Performer, die sich offensichtlich gerne unterschiedlichste choreografische Herausforderungen so einfach wie zwei Paar Handschuhe überstreifen. Die Lust, sich auf energetische Cluster, tänzerische Impulsivität und spannungsstarke Momente intensiv-flüchtiger Partnerschaft auf der Bühne einzulassen, die lange zurück unter Einflüssen des Befindlichkeits- und Sound-Kosmos der späten 80er Jahre schon einmal eine komplett andere Generation von Interpreten bewegt haben, war jedem einzelnen anzusehen. 

Hauert REVISITEDDazu hatte man für die Eröffnungsproduktion „Re.Visited – 3 Works On Mozart“ noch den Schweizer Thomas Hauert für eine Uraufführungsdreingabe mit ins Boot geholt. Zu Mozarts früher Symphonie Nr. 29 geriet diese mit ihrem strudelartig kreisenden Drive einer quirligen achtköpfigen Schwarm-Gruppe zum charmant-witzigen Dreh- und Angelpunkt eines gelungenen zeitgenössischen Dreiteilers, der per Rückblick auf die Festivalanfänge Gegenwart und Vergangenheit für pausenlos kurzweilige eineinhalb Stunden auf einen gemeinsamen Nenner brachte: Tanz pur als probates (Ausdrucks-)Mittel zur abstrakt-sorgenfreien Visualisierung einer Komposition, im dynamischen Umgang mit zwischenmenschlichen Bindungen und Verlusten (Purucker) oder einem sich Sich-Ablenken vom und Hadern mit dem Tod (Horta). Stets fein in einen bloß durch Lichtstimmungen – oder im Fall von Horta mittels harter Wechsel von Hell und Dunkel – ästhetisch ausgekleideten Raum hineinchoreografiert. Sequenzweise schoben melodische Fetzen (Purucker) respektive leise, wie aus der Ferne und manchmal von Alltagsgeräuschen überdeckte Klänge Mozartscher Musik (Horta) die choreografischen Passagen an, deren Fluss aus Solos, Duetten und (v.a. bei Horta sich staffelnden) Gruppierungen nichts an Reiz eingebüßt haben. Ein wundervoller Auftaktabend, den man sich so rigoros krude und sicherlich nicht dermaßen zeitlos berührend, verspielt bzw. energetisch packend vorgestellt hätte. 

Jérôme Bel und Wim Vandekeybus: Positiv verstörendBel ISADORA2

Im Anschluss erlebte man positiv verstörendes Tanztheater von Jérôme Bel und Wim Vandekeybus. Ein krasseres Wechselbad war kaum vorstellbar. Erst bot die Tanzwerkstatt mit „Isadora Duncan“ zahmen „Konzepttanz“, wenn Jérôme Bel in seiner Porträtstudie über die Pionierin des modernen Ausdrucktanzes Funktionsweisen einiger ihrer überlieferten Soli demonstrierte – in einer Art interaktivem Vortrag mit der formidablen, mittlerweile 70-jährigen Tänzerin und Duncantechnik-Lehrerin Elizabeth Schwartz. Da wurde radikal mit den herkömmlichen Konventionen von Bühnenkunst gebrochen. Anschaulich und unvergesslich.

UltimaVez TRACES2Dann folgte ein Horrorthriller von Wim Vandekeybus. Dieser ließ neun gummidynamische Tänzer seiner belgischen Kompanie Ultima Vez wie zeitgenössische Vertikal-Rock᾽n᾽Roller mit bestimmten Rollenprofilen grandios abtanzen und dabei immer wieder auf drei phänomenal lebensecht agierende Braunbären treffen. „Traces“ spielt auf einem atmosphärisch starken Straßenabschnitt mitten in den Karpaten. Flankiert von dunklem Wald, einem Haufen Reifen und einem Müllcontainer als multifunktional nutzbarem Requisit. Alles beginnt mit wilden Schreien, getoppt von einer Art kosmischem Autounfall. Zwischendurch ficht ein Rudel Hirsche mit zu Geweihen erhobenen Armen seine Rangordnung aus. Die Finalschlacht zwischen dem munter kroatisch daherredenden Clanchef und einer verrückten, hexenartig-weltfremden Gegenspielerin endet brutal in einem Natur-Tier-Mensch-Massaker. 

Spektakulär: Moritz Ostruschnjak

Vergleichbar grandios und doch gänzlich anders hielt Moritz Ostruschnjaks „Yester:Now“ den Zuschauer bei der Stange. Lediglich sechs Interpreten entfalteten dabei eine maximale Wirkung. Denkbar wurde das hyperaktive Stück überhaupt erst, weil die Philharmonie im Münchner Gasteig coronabedingt nicht genutzt werden konnte. Als vergangenen Januar die Kreationsphase begann, stürmte ein aufgebrachter Mob gerade das Kapitol in Washington. Derart einschneidende Ereignisse beeinflussten den Produktionsprozess der waghalsig-mitreißenden, aus diversen Elementen gesampelten Show maßgeblich.Moritz Ostruschnjak1

Nach Monaten konnte sich – jetzt endlich – das künstlerisch spektakuläre Amalgam in Slogans, bewegten Bildern und stereotyp-frenetischem Tanz bei der Live-Premiere entladen. Perfekt hineinmodelliert in das riesige Auditorium des leeren Konzertsaals – mit wenigen, dafür sehr effektvoll und virtuos eingesetzten szenischen Mitteln. Etwa 100 auf der Bühne platzierte Zuschauer konnten pro Vorstellung dabei sein. Allein schon der Aspekt Raumerfahrung kam phänomenal rüber. Strukturell bestimmte kontinuierliches Stimmungsschüren den nach dem Prinzip „Pick & Mix“ bzw. „Cut & Paste“ erarbeiteten zeitgenössischen Tanztheater-Abendfüller.

Anpfiff. Man blickte auf 2400 leere Plätze. Die durch Holzmauern voneinander getrennten Zuschauerblöcke erinnerten an eine Festungsarchitektur in Hanglage. Erneut ertönte eine Trillerpfeife. Aus dem Nichts zwischen den Sitzreihen tauchten die Perfomer Dhélé Agbetou, Guido Badalamenti, Daniel Conant, Quindell Orton, Roberto Provenzano und Magdalena Agata auf. Eine Mannschaft, fit wie ein Turnschuh. Ostruschnjak hat sie unter dem pulsierenden Soundmix von Jonas Friedlich auf einer emotionalen Scala von Fühl-Dich-Gut bis zu Nimm-Dich-in-Acht kongenial zusammengeschweißt. Zeitweise hörte sich der sie herumjagende Orgel-, Blechdosen- und Brüllklang so gruselig an, als würde der Saal selbst schreien. Schließlich hat er nach der letzten Aufführung am 31. Juli 2021, die für einige sehbehinderte Zuschauer im Rahmen des Autodeskriptionsworkshops beeindruckend ausführlich und recht detailgenau live in verbale Beschreibungen übersetzt wurde, ausgedient.

Moritz Ostruschnjak2Eine der schrägsten tänzerischen Solonummern zwischen Elvis Presleys „Are You Lonesome Tonight“, Pete Seegers versöhnlichem Protestlied „We Shall Overcome“ und auf Plakate gekritzelten Parolen wie „Welcome cheap Workers“, „Fuck poor people“ oder „Don’t do Evil“ war dabei David Conants Hitlersmiley-Solo. Hier lässt der in jeder Bewegungslage bombige Tänzer mal nur den Kopf, mal den ganzen Körper hinter dem auf ein weißes Rechteck gemalten Strichgesicht verschwinden. Er dreht sich und kreiselt mit dem Plakat umher. Auf dessen Rückseite sieht man das An- und Ausschaltsymbol für Computergeräte. In einer anderen variationsreichen Nummer mit Baseballschlägern suchen die Protagonisten sich gegenseitig zu übertreffen. Der erste singt mit dem Requisit im Mund am Boden liegend tapfer weiter, dann wird das Ding nach jeder Zirkusnummer einfach laut krachend zu Boden geschmissen. Am Ende stehen die sechs Protagonisten erwartungsvoll in luftiger Höhe. Bereit zum Absprung ins nächste Level der Weltgeschichte.

Who’s Next?

Wie verändern Künstler den Tanz? Indem sie ihn neu oder radikal anders denken. Dies aufzuzeigen, ist Jahr für Jahr einer der wichtigsten Aspekte der Tanzwerkstatt Europa. Jeden Sommer mutiert München durch das Festival zu einem Schmelztiegel zeitgenössischer Bewegungstechniken und choreografischer Kunst auf Zeit. Wer die Veranstaltungen besucht, taucht automatisch mit in den familiären Charakter des Ganzen ein. Bestechend wirkt zudem das unermüdlich richtige Gespür des Veranstalters Walter Heun dafür, stets nach vorne zu schauen, ohne frühere Begegnungen oder langjährige Wegbegleiter aus dem Blick zu verlieren.

Selten ist das so schlüssig und auf durchweg hohem Niveau wie dieses Mal gelungen.

Auch wenn Salma Salem aus Ägypten und Synda Jebals Crew aus Tunesien für den gegen Ende geplanten Doppelabend letztlich nicht einreisen durften. Beide werden ihren Auftritt 2022 nachholen. Weitere mögliche Programm-Anwärter für die Zukunft stellten sich am „Who’s Next“-Abend mit handwerklich erstaunlicher Bravour vor – und einem breiten Ideenkosmos für eigene Stücke. Auf die klare, rein formale Bewegungsstudie von Helen D’Haenens und ein über eine numerische Textstruktur funktionierendes Selbstporträt (Anne-Hélène Kotoujansky) folgte – aus Indien filmisch zugeschaltet – das extrem-körperlich elektrisierende und in seiner Kerndynamik an Sharon Eyal erinnernde Gruppenstück „The Source“ (Mihir Grover).

Doch damit nicht genug. Das Beste waren zwei perfekt ineinander verzahnte Partnerarbeiten: Arvi Yrjoia & Fidel Rott – ein zirzensisch geprägtes Duo aus Finnland und den Niederlanden – punkteten mit einem fantastischen, technisch ausgeklügelten und dabei impulsiven Jonglage-Duett. Lisa Laurent & Mattéo Trutat aus Frankreich wandelten – unmittelbar nach ihrem Tanzdiplom in Contemporary Dance – ihre generelle Liebe zum klassischen Ballett um in ein stimmiges Spiel mit fixen Formen. Stark zugespitzt vom posierenden „Adagio“ über einen „Variation“-Teil bis hin zur „Coda“, wo sich Tschaikowskys Musik für den Schwarzen Schwan aufs Trefflichste mit jazzigen Hüft- und wilden Freestyle-Arm-Schwüngen verbindet. 

Bei „Flush“ der aus Nordirland stammenden Sheena McGrandles fragte man sich allerdings, warum diese Tänzerin/Choreografin den Fluss ihrer Werke so konsequent in einzelne Momentaufnahmen von bloß Sekundenbruchteillänge auf- bzw. zerteilt. Dem Zuschauer bereitet sie damit jedenfalls ein originelles Live-Seherlebnis, das wirkt, als würde ihr Team am Regiepult die Bewegungsabläufe der drei auch stimmlich agierenden Interpretinnen ständig mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vor- oder zurückspulen. Erzählung passiert hier von jeglicher Normalität entkoppelt. Winzige Details einer Aktion finden, zigmal wiederholt, zu neuer Bedeutung. Oder sie reizen den Betrachter einfach zum Lachen. McGrandles FLUSH

Den allergrößten Respekt aber verdiente sich Flora Détraz՚ „Muyte Maker“: ein hinreißend kurios performtes Konzert altfranzösischer Gesangsstücke und trivialer mittelalterlicher Lieder. Da hocken vier Frauen hinter vier zusammengeschobenen Tischen. Obst und Pflanzen schmücken ihre Köpfe. Doch die Zöpfe hängen an Ketten, deren Gegengewichte Hammer, Beil, Axt und Sichel sind. Wir hören „Cucu“ von Juan del Encina. Die Tänzerinnen singen lupenrein à capella – und das die gesamte Vorstellung hindurch! Zugleich tanzen ihre Augen, Münder und Gesichter. Später dürfen in emotionalen Ausbrüchen auch die Arme und Beine mit ran. Das erste Gastspiel der französisch-portugiesischen Choreografin dauert genau eine Stunde. Gesanglich und in der Machart eine Wucht.

Geburtstags-Allerlei

Nach 17 bildersatten und eindrücklich-intensiven Tagen ging die 30. Jubiläumsausgabe mit der obligaten Abschlussperformance der Dozenten und ihrer Workshop-Teilnehmer zu Ende. Die sonst übliche finale Party aller Mitwirkenden und Zuschauer fiel pandemiebedingt schon am Vorabend nach der eigentlichen Geburtstagsveranstaltung „Against all Odds“ aus. Letzteres ein Allerlei „trotz widriger Umstände“ aus gezoomten Gratulationen und persönlichen Situationsanalysen (Ramsey Burt, Jonathan Burrows), einem auflockernden Online-Minikurs im Bewegung-Fühlen (Jeremy Nelson) und pointiert vorgetragenen Texten, die der Wiener Künstler Nikolaus Gansterer zeitgleich und an die Hinterwand projiziert durch skulpturale, auf seinen Bühnentisch gemalte Visualisierungen künstlerisch ausdeutete.

Nachhaltig aufschlussreich prägte sich die Corona-Restriktionen kritisch hinterfragende Abhandlung „Touch me, if you want“ des Performancekünstlers Janez Janša oder die resoluten Ausführungen wider das globalisierte Tourneegeschäft von Jérôme Bel ein, dessen Kompanie längst jede Flugreise verweigert. Von den kurzen, improvisatorisch wirkenden Tanzeinlagen wurden einige vom Münchner Musiker Robert Merdzo in Klang gebettet. Zum Schluss ließ seine E-Gitarre ein kleines Mädchen – die Hände am Saum des Kleides – allein auf großer Bühne tanzen. Was für ein Hoffnungssymbol. 

Tanzwerkstatt Europa, 21. Juli bis 6. August 2021

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