In Kooperation mit dem OFF-Theater, das sich inzwischen zu einer wichtigen Heimstätte für die freie Tanz-Szene (und gemeint ist hier Tanz) in Wien etabliert hat, entstand „SILEN-CE“, die neuste Arbeit von Elio Gervasi. Der durch die Lockdowns vielen verordnete Rückzug mag die Intentionen des Choreografen verstärkt haben, die psychologischen Folgen von Isolation zu untersuchen. Diese Uraufführung zeigt Gervasi, wieder einmal, als brillanten Erzähler profunder Geschichten.
Auf der Bühne (David Bianchini) liegen im Quadrat lange Streifen reflektierender, metallischer Platten. Die vier Tänzer*innen (Luca Zanni, Megan Castro, Annalisa Di Lanno und Paula Dominici), alle in Existenzialisten-Schwarz gekleidet, stehen im Kreis in deren Mitte. Noch ist die Welt, noch fühlen sie sich in sprichwörtlicher Ordnung. Sie beginnen vorsichtig, den Kopf, dann die Schultern zu bewegen. Der Kreis löst sich auf. Der Sound (Alessandro Vicard) sendet etwas wie verhallende (Start-) Schüsse in die Szene. Mit immer hektischeren Leibesübungen, noch in Sicherheit vermittelnden, aber aufbrechenden rechtwinkligen Strukturen, wollen sie sich ertüchtigen für das Kommende. Sie scheinen zu ahnen, dass ihnen Einiges bevorsteht. Man spürt ihre Angst davor.
Die Ausgangssituation ist für alle die gleiche. Vergesellschaftete und in soziale Kontexte eingebundene, sich ihrer selbst kaum, meist nicht bewusste Menschen. Was sie in die Isolation treibt, geradezu zwingt, bleibt unbekannt. Es hat auch keine Bedeutung, ob es, naheliegend, äußere Faktoren wie eine Pandemie mit aufgezwungener physischer Distanzierung, politische oder gesellschaftliche Umstände wie Nationalsozialismus, Inquisition, Zugehörigkeit zu diskriminierten Minderheiten, Rassismus, religiöser Fanatismus oder soziale Faktoren sind. Darüber hinaus, und das ist das Wesentliche, ist es der menschlichen Existenz eigen, mit dem Bewusstwerden seiner selbst auch das Zurückgeworfensein auf sich selbst zu spüren. Meist ins Unbewusste verdrängt und mannigfaltig kompensiert, immer aber ist es ein zentrales, wenn nicht DAS Thema für jedes Individuum. Ganz allein.
So allein nun sucht jede(r) der vier einen Weg durch die bislang unbekannten Wirren, ausgelöst durch das aus den eigenen Tiefen Hinaufdrängende. Wenn der durch Geschäftigkeit und Vielsamkeit aufrecht erhaltene Gegendruck erlahmt, wenn man gezwungen wird, sich selbst zu hören und zu sehen, beginnt Verunsicherung.
Gervasi entwirft für jede(n) eine individuelle psychische, in Bewegung übersetzte Signatur, angesiedelt zwischen Opfer seiner unbewussten Persönlichkeitsanteile und dem Versuch eines lenkenden Umganges damit. Megan geht ihren Weg in einen ausgeprägten Narzissmus, dem sie immer tiefer, dem Namensgeber dieser psychischen Störung gleich sich in den am Boden liegenden Spiegeln ausgiebig betrachtend und anbetend, verfällt. Annalisa zerbricht an sich selbst, sie windet sich schließlich nur noch am Boden. Paula probiert den selbstverliebten, im Völlegefühl seiner Herrlichkeit schwelgenden weiblichen Dandy, köstlich überzogen, wunderbar getanzt, bevor sie der hinten hängende konvexe, von Luca nach außen ins Konkave gewölbte und damit ein gänzlich anderes Bild zurückwerfende Spiegel völlig verwirrt. Nach einem immer hektischer werdenden Ausbruch verebbt ihr Tanz in Hüpfen und Kreisen. Sie tritt auf der Stelle. Die Weigerung, sich in den vielen bereitstehenden Spiegeln anzuschauen, choreografiert Gervasi vituos. Mit Luca schafft er die reflektierteste Figur. Er erkennt die Spiegelungen als solche und sucht sich in ihnen zu erkennen.
Sie schieben die Streifen zusammen zu einer (fast) lückenlosen Fläche, auf der sie, dem Publikum zugewandt, stehen. Weil die Spiegelungen der Welt der psychische Nähr-Boden für unser Reifen sind. Sie kreisen die Schultern und drehen die Köpfe, langsam verklingend mit dem Sound …
Mit seinen Aktivitäten macht Elio Gervasi sich seit vielen Jahren auf dreifache Weise verdient um die Kunst. Erstens: Er schafft konsequent zeitgenössischen Tanz auf sehr hohem Niveau. Zweitens: Er sucht für seine Produktionen manchmal neue, junge oder noch weniger erfahrene Tänzer*innen, zuweilen hält er die Tänzer*innen auch über viele Jahre in seiner Kompanie. In jedem Fall aber fördert er das Potential, das in den Künstler*innen schläft und schlummert, ans Tages- respektive Bühnenlicht. Gervasi sucht und findet Rohdiamanten und schleift sie zu funkelnden Steinen, ein jeder mit seiner eigenen Schönheit. Drittens: Er adressiert unsere emotionale Intelligenz, kompromisslos. Die seine ist ihm wesentliches Werkzeug für die Stückentwicklung und prägt sein Schaffen maßgeblich.
„SILEN-CE“ ist eine aus der Sorge um die Menschen entstandene Aufforderung. Der feinsinnige, kluge Beobachter Elio Gervasi stellt mit dieser exzellent getanzten Arbeit einen Spiegel vor die Zuschauer*innen. Sich selbst in ihm, das konstruktive Potential darin und Selbsterkenntnis als notwendigen Prozess zu erkennen gibt er dem (wovon tatsächlich?) begeisterten Publikum mit auf den Weg. Nicht nur für den nach Hause.
Tanz Company Gervasi “SILEN-CE” am 14.Oktober im OFF-Theater