Es ist bereits zum 6. Mal ein Inklusives Tanz-, Kultur und Theaterfestival, das in Graz Türen in unterschiedliche Begegnungsräume öffnet: für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, vorsichtig leise ebenso wie nachdrücklich selbstbewusst. 900 Besucher*innen sind in diesem Jahr an den vier Veranstaltungstagen offline und online mit dabei gewesen, um aktiv oder rezipierend künstlerisches Miteinander zu erleben.
Eines der besonderen Art. Denn freilich bedarf es häufig mehr an Geduld und Empathie als im eigenen, als „normal“ empfundenen Alltag, um die Welt des mehr oder weniger markant anderen betreten zu können und ein wenig zu verstehen. Wie bereichernd dieser Aufwand allerdings für jede Seite ist, das macht dieses Festival in vielschichtiger Weise ganz wunderbar bewusst.
Unterstützt durch eine große Bandbreite des Angebots: beginnend mit einer (während des Festivals abrufbaren) Podcast-Reihe mit Künstler*nnen zur Thematik von Inklusion, basierend auf einem komplexen Bemühen um allgegenwärtige Accessibility. Eine, die also räumliche Barrierefreiheit ebenso umfasst wie informative und kommunikative und nicht zuletzt soziale Barrierefreiheit. Abgerundet durch kostenloses Angebot von Workshops: „Tanz-Raum“, eine Danceability-Veranstaltung sowie ein „Theaterworkshop“ zusätzlich zu Begegnungs- und Informationsveranstaltungen für Fachpersonal im Behindertenbereich. Künstlerisch bereichert durch Tanz- und Theaterstücke, Filme und eine Ausstellung.
Diese, „Fenster zur Welt“ benannt, bietet einen fein gleitenden Einstieg in das Thema. Die präsentierten Handy-Fotos von Evelyn Brezina, die in ihrer Heimatstadt Wien mit dem Rollstuhl fotografierend unterwegs ist, öffnen die Augen nicht nur für eine etwas andere, weil hochsensibel wahrgenommene Schönheit der Stadt, sondern auch viel an Emotionen durch die von den Fotos beigefügten Texte; beispielhaft jener zum Foto von (ihren eigenen) Schuhspitzen und menschliche Schattenumrisse auf dem Asphalt, ergänzt durch ihre Worte: “Umgeben von Schatten. Ein Symbol für die Gewissheit nicht allein zu sein. Im positiven Sinn!“ Die von ihr oftmals anders wahrgenommenen und fotografisch bewusstgemachten Perspektiven setzen genau dort an, wo im hochkreativ-professionellen, humorvoll tiefgründigen Wheel-Movie „Wie wir denken wollen“ (Idee und Drehbuch: Matthias und Susanne Ohner, Matthias Grasser) Schauspieler Grasser, im Rollstuhl sitzend, feststellt: „Ich finde, wir sollten das Leben aus mehreren Blickwinkeln betrachten.“ Dieser immer wieder szenisch und inhaltlich überraschende, weil unverblümt aus dem Leben gegriffene Film, der die Begegnung eines Beeinträchtigten und eines Menschen ohne diese in den Fokus stellt, ist eine handfeste erste, Denk-Horizonte erweiternde Anleitung dazu.
InTaKT im Film
Durch und durch authentisch ist es auch, was der Dokumentarfilm „Crazy little thing called love“ erfahren lässt: Menschen unterschiedlichsten Alters reflektieren hier über und zu Liebe und ihre Sexualität. Damit öffnet sich eine besonders tabuisierte thematische Tür und lässt mittels derart gegebener, entwaffnender Offenheit das große Maß an Gemeinsamem zweier unterschiedlich „ausgestattete“ Räume – die von Menschen mit Einschränkungen und ohne - erkennen und damit so manches nahezu selbstverständlich verstehen. In diesem für jeden so persönlichen Bereich der Sexualität eine derartige Summe an Identem zu entdecken, ist gerade auch als Ausgleich zum teilweise verunsichernden, ja beängstigenden Unbekanntem in der „anderen Grupp“ von größtem Wert. Dass für die notwendige Aufnahmebereitschaft beim Rezipienten die feinfühlige, zurückhaltende Regie von Anja M. Wohlfahrt und Edi Haberls Kamera und Schnitt den hier besonders wesentlichen, richtigen Rahmen bieten, ist die Basis für das Gelingen dieses mutigen Projekts.
Die Begrenzungen im Denken der Menschen aufzulösen ist einer der Kernintentionen des Festivals, das von Lina Hölscher (Künstlerische Leitung) und seit kurzem gemeinsam mit Anja M. Wohlfahrt (Organisatorische Leitung) veranstaltet wird. Zwei der gezeigten Filme bieten für diese Zielsetzung besonders wichtige Inhalte: „Und ob ich tanze!“, Regie Lars Pape, ist ein Dokumentarfilm über ein Tanzworkshop in Berlin, das 2019 zum ersten Mal in Europa Kindern mit Zerebralparese die Teilnahme an einem solchen ermöglichte. Zwei der beteiligten Kinder stehen im Fokus und lassen überzeugend verstehen, wie wichtig und beglückend diese Erfahrung des Tanzens in der jeweilig ureigenen, kreativen Art für sie ist; und sie lassen den Zuseher einsehen, dass er bislang so manch bemerkenswerte Form und Art des Tanzes ignoriert hat.
Ganz anders der Inhalt von „EVA-MARIA“, einem Film von Lukas Ladner, der im Rahmen der Diagonale 2021 in Graz erstmals gezeigt und als bester Nachwuchsfilm ausgezeichnet wurde: Die seit ihrer Kindheit an den Rollstuhl gebundene Protagonistin empfindet ausgeprägten Kinderwunsch. Wie dieser Traum erfüllt werden kann und in ihrer eingeschränkten Realität gelebt werden kann, das ist in diesem mit Fingerspitzengefühl wie auch mit gebotener Offenheit gestaltete Film eindrucksvoll und Mut machend zu erfahren.
InTaKT auf der Bühne
Eine ebenso mitreißende wie ernsthaft berührende Konfrontation mit dem titelgebenden Thema „UN/GLEICH, aber jeder möchte“ vermittelt die Tanztheater Produktion der Ich bin O.K. Dance Company in zeitgenössischen Tanz-Szenen wie solchen des Urban Styles und Live-Raps. Die agierenden professionellen TänzerInnen mit und ohne intellektuelle Beeinträchtigung machen dank ihrer unterschiedlichen Tanz-Sprach-Ebenen das Dilemma von Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit so wie sowie gleichzeitig nach Individualität mit viel Selbstironie und ungeschönt be-greifbar.
Dass auch schon die Allerkleinsten mit Problemen gegenwärtigen Lebens konfrontiert werden können, zeigt das Junge Theater Augsburg in ihrem Theaterstück für Kinder (3+), ohne viel Worte und mit viel Musik: „Sabienchen! Abenteuer einer Honigbiene“. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um Beeinträchtigungen, sondern vielmehr, wie im Programmheft angekündigt, um Artenvielfalt; oder letztlich eigentlich darum, dass diese reduziert wird und auch schon ist. Ein mehr als wichtiges, aktuelles Thema allemal, fantasieanregend und liebevoll, unterschiedliche Sinne ansprechend aufbereitet und behutsam interagierend.
(Theater-) Kunst, die das kleine Publikum auf weitere Erfahrungen dieser Art neugierig machen dürfte und damit - wie insgesamt das überaus gelungene Festival – Potential zum Türen-Öffnen in sich trägt.
InTaKT Inklusives Tanz, Kultur- und Theaterfestival Graz, 4. bis 7. November 2021, im TaO! – Theater am Ortweinplatz, Schauspielhaus Graz, Frida & freD -Knopftheater