Erfreulich, dass eines der schönsten Literaturballette des Zwanzigsten Jahrhunderts wieder am Spielplan steht in dieser Saison des Wiener Staatsballets: John Crankos „Onegin“. Zuletzt bezauberten Hyo-Jung Kang, Ketevan Papava und die jetzige künstlerische Direktorin des Slowakischen Staatsballetts in Bratislava, Nina Poláková, in der Figur der Tatjana. Nun gelang dies Ioanna Avraam, seit 2008 Ensemblemitglied des Wiener Staatsballetts. Und zwar so gut, dass Direktor Martin Schläpfer sie nach Vorstellungsende am 26. September coram publico zur Ersten Solistin ernannte.
Der Part der Tatjana kann mit jenem von Violetta in Giuseppe Verdis „La Traviata“ insofern verglichen werden, als beide in den drei Akten einen Persönlichkeitswandel durchleben, der sich im Figurenspiel manifestieren muss. Im Fall der Violetta geschieht dies genregemäß über die Stimme, wenn die Sängerin im Idealfall ihren zuerst lyrischen Sopran dann in einen dramatischen umformt. Puschkins Heldin Tatjana sollte von der jugendlich-naiven, schwärmerisch Verliebten zu einer reifen, abgeklärten Frau mutieren und dies in ihrem Tanz vermitteln. Auch der gut eingesetzten Pantomime kommt hierbei Bedeutung zu.
Und Avraam bewältigt diese Herausforderung mit großer Spielfreude und technisch bravourös. Sie ist eine ideale, federleichte Partnerin für den routinierten Eno Peçi in der Titelrolle, und die unglaublich anspruchsvollen Hebungen und gedrehten Würfe in den Pas de deux der beiden gerieten zu einem schwerlos scheinenden Bewegungsstrom. Auch die Ensembleszenen der diegetischen Tänze gelangen an diesem Abend ausgezeichnet, von einigen Holprigkeiten zu Beginn abgesehen. Davide Dato als Lenski und Sonia Dvořák als Olga boten abermals ein ausgezeichnetes Gegenpaar, und Andrey Teterin tanzte wieder solide den Fürsten Gremin. Robert Reimer leitete den Abend musikalisch am Dirigentenpult.
„Onegin“ fasziniert seit Jahrzehnten das Publikum zu Recht. Denn zum einen gelang Cranko eine dramaturgisch spannende Verdichtung der unglücklichen Liebesgeschichte. Der andere Grund ist die überragende choreographische Leistung, die im gelungenen intermedialen Einsatz von Tanz liegt. Dabei fungiert dieser nicht einfach im Medienwechsel von Sprache in Bewegung, sondern der Körper vermag mittels Bewegung Bedeutung jenseits von Sprache zu generieren. Dazu kommt noch diese hoch attraktive und technisch fordernde Tanzsprache Crankos und sein großes dramaturgisches Vermögen, spezifische Phrasen aneinander zu knüpfen. Doch zum Leben erweckt wird all dies nur von erstklassigen Tänzer*innen auf der Bühne, sowie von jenen des Wiener Staatsballetts.
Wiener Staatsballett: „Onegin“ am 26. September 2022 an der Wiener Staatsoper. Nächste Vorstellungen in dieser Saison: 3. Oktober, 23., 27. und 30. Jänner 2023.