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Obscene1Erst im Dezember 2022 war die schweizerisch-griechische Choreografin und Tänzerin Alexandra Bachzetsis mit ihrer 2019, vor Corona entstandenen Arbeit „Chasing a Ghost“ zu sehen (tanz.at berichtete). Nun präsentierte sie ihr Stück „2020: Obscene“, in dem sie Tanz, Text, Musik, Gesang, Theater und Visual Art zu einer deren eigene und die Fundamente mannigfaltiger Identitäts-Konstrukte unterwandernden, auch als 3-Kanal-Film produzierten Performance verschmilzt.

Der Titel beschreibt konzentriert Arbeitsbedingungen und Sujet. Während der Pandemie meist auf Distanz erarbeitet, dringt „2020: Obscene“ in die Vieldeutigkeit der Begriffe Obszönität und Szene. Alexandra Bachzetsis erschafft einen erweiterten Obszönitäts-Begriff. Sie schließt, die sexuell konnotierten Aspekte als nur einen Teil einer weit größeren Gesamtheit betrachtend, tiefenpsychologisch Intendiertes, die Segnungen des Informations- und Medien-Zeitalters und den Kunstbetrieb mit ein

Das Stück erzählt von der Vermeidung der Konfrontation mit der eigenen Einsamkeit, die unabwendbares Resultat des Geworfenseins in die Welt ist, und mit der Angst vor seinen eigenen Schatten durch Flucht in und Anpassung an kulturelle, gesellschaftliche und soziale Normen und Muster sowie infantile behavioristische Erfolgsrezepte. Das Anästhetikum Gemeinschaft, individueller und Gruppen-Narzissmus kompensieren nicht vorhandene Selbstliebe. Und Gott sei Dank, es gibt ästhetische, Rollen- und Verhaltens-Muster, die Linderung verheißen.

Sie beschreibt Symptome. Sie kann das, weil sie sie als solche erkennt. Die Sicherheit ihrer Analysen wird möglich durch ihre Distanziertheit. Die Präzision ihrer Beobachtung ist auch die ihrer Stilmittel und Bilder und die der involvierten Künstler-KollegInnen. Entfremdung übersetzt sie in verfremdete, sich selbst unterwandernde Bilder. Die Subversion auch theatraler Wirk- und Beeinflussungs-Mechanismen erzeugt zeitweise Unbehagen, Verunsicherung. Die entsteht aus der Spannung zwischen der sichtbaren Aktion und deren unsichtbarer Intention, zwischen dem Ausdruck und der ihm zu Grunde liegenden Sehnsucht. Was schmerzt, ist nicht die Armseligkeit der Selbst-Inszenierung an sich, sondern, was die Menschen in sie treibt. 

In fragmenthaften Episoden und mit distanzloser Zudringlichkeit in-szeniert das Stück Intimität. Kreierte Identitäten und den spielerischen Umgang mit ihnen (auch den sexuellen) sowie deren physische Re-Präsentation in Spannungsfeldern (Selbst- und Fremdbild, Bedürfnis und Verhalten, Verlangen und Erlangen, Anspruch und Umsetzung, Normierung und Ausformung, An-Trieb und Geste) gießt die Arbeit auf individueller, sozialer, performativer wie künstlerischer Ebene in eine multidimensionale Matrix.

Mit tänzerischen und theatral-performativen Elementen, Text, Gesang, Musik und visueller Kunst werden Körperkult, Äußer- und Oberflächlichkeiten, Moden, Queerness, Pornografie, Über-Sexualisierung der (sozialen) Medien, Extreme, Exzess, Ab- und Zurückweisung, Verweigerung, Auseinandersetzung, emotionale Kälte, Traurigkeit, Wehmut, Selbstbetrug und Selbstverleugnung und vieles andere vorgeführt. Eitelkeiten allenthalben.Obscene2

Ein Live-Video zeigt ihr Gesicht, die Augen in die Kamera blickend, wie beim Blick in den Spiegel. Sie rückt sich zum Klang schöner Streicher-Musik (Sounddesign: Tobias Koch) die Haare zurecht, streichelt sich die roten Lippen und den Hals, macht mit den Fingern eine Brille, verschiebt die beiden „Brillengläser“ gegeneinander. Sie verführt, beobachtet und verschiebt die Perspektive. Wir, das Publikum, sind der Spiegel. Wir schauen auf das, was wir spiegeln. Welche Raffinesse allein in diesem Bild. Und davon folgen viele.

Alexandra Bachzetsis, im hautengen roten Overall, beginnt das Stück mit dieser Solo-Szene, gefolgt von einem lasziven, provokativen Räkeln an der horizontalen Pole-Dance-Stange, in der linken, roten, 'kleineren Hälfte' der Bühne. Die rechte, gelbe Seite gibt Raum für einen später aufgebauten kuscheligen Sündenpfuhl. Eine Kamera auch hier in der Ecke. Zwei Treppen-Elemente, variantenreich eingesetzte Requisiten, Mikrofone und vor allem die häufig gewechselten oder veränderten Kostümierungen (von Christian Hersche, Ulla Ludwig und Laurent Hermann Progin), als Schulmädchen, im Body oder mit Jeansjacke zur gesäßfreien Strumpfhose die Frauen (Alexandra Bachzetsis, Tamar Kisch), in Anzügen, wie Cowboys oder mit freiem Oberkörper die Männer (Owen Ridley-DeMonick, Konstantinos Papanikolaou). Produkte des Identitäts-Designs in ihrer Explizitheit. Immer aber fragmentarisch, gemixt, gebrochen oder persifliert. Die Inszenierung ist nie perfekt. Die Haare richtet sie im Blick der Kamera, das Sakko auf nackter Haut, ein Schuh fehlt. Sie bricht die Archetypen auf, legt mit Teilen der Haut, die unter der jeweiligen Staffage sichtbar werden, auch eine Spur in die Ur- und Abgründe psychischer Bedingtheiten unseres Handelns.

Obscene4Die binäre Sexualität dekonstruiert sie. Zeitweise eine „Brokeback Mountain“-Ästhetik in Kostümen und Attitüde der beiden Männer. Queerness als Subversion von geschlechts-identitären Archetypen. Überhaupt: Archetypen und Optionen dieser: Frau, Mann, Jugend, Attraktivität, verführerisches Weib, Dandy, hetero- und auch homosexuelle Beziehung, Machtverhältnisse, Abhängigkeit. Jugend- und Jugendlichkeits-, Körper-, Weiblichkeits-, Männlichkeits-, Äußerlichkeits-Kult sowie auch den inzwischen zu stattlicher Größe herangewachsenen, in der Kunst- und Medienwelt so forcierten Kult des Queeren, des Nicht-Heteronormativen, brechen sie auf, (über-) treiben bis ins Exzessive.

Die dem Exzess innewohnende Rebellion, die Rebellion um ihrer selbst willen ist ihre Sache nicht, richtet sich gegen kulturelle Normung mit ihrem das Individuum adressierenden Zwang für sich sowie gegen deren Inhalte. Der Exzess wird zum Narkotikum für die Akteure selbst wie auch für die, die ihn konsumieren. Die Zuschauenden werden zu Voyeuren gemacht. Sie laben sich an ihrem eigenen Spiegelbild, ohne recht zu wissen, dass sie eines sehen. Die vier PerformerInnen und ihre Interaktionen als Projektionsflächen unserer Sehnsüchte und Begierden spiegeln uns gleichzeitig unsere Entfremdung von uns selbst, vom Mitmenschen und vom Sein als solches.

Die Obszönität, die in der Selbst-Inszenierung an sich liegt, stellt das Stück schonungslos aus. Den Peinlichkeiten nach außen gerichteter und, meist unbewusst, reflexiv intendierter Persönlichkeits-Konstrukte stellt sie deren zerstörerische Wirkung auf das Selbst, weil dieses ignorierend, und die soziale Umwelt gegenüber. Subversion als Mittel zur Wahrheitsfindung. Dekonstruktion und Entkleidung von jeglichem physischen wie psychischen Dresscode als Methoden zur Ermöglichung von Erkenntnis. Als Weg zu den Wurzeln, zum Eigentlichen.

Alexandra Bachzetsis hält sich ein Bild von einem schönen Gesicht vor ihr Gesicht. Es ist das Cover eines Mode-Buches. Ein einfaches und doch mächtiges Bild für die verführerische, manipulative Kraft von Moden jeglicher Couleur. „Es ist nicht leicht, eine Person zu sein.“ bekannte Alexandra Bachzetsis im Artist Talk danach. „Was ist richtig und was nicht? Und warum?“ Obscene3

Nur kurz bricht durch die mitteleuropäische Gerichtetheit der Attitüde die griechische Version von Authentizität. Um dann am Ende, und in der roten Ecke, im glitzernden Gefunkel des mit spiegelnden Plaketten besetzten Kleides mit dem Licht ganz langsam zu ersterben.

Aus der Distanz ihrer Einsamkeit heraus schaut Alexandra Bachzetsis auf die Welt, die Menschen in ihr (sich selbst einschließend) und den Kunstbetrieb. Ihr gnadenloser Blick durchdringt Fassaden wie ein Neutron und ermöglicht so maximale Neutralität. Aus dieser heraus entstehen Arbeiten, die in ihrer Dekonstruktion den konstruktiven Geist der Künstlerin offenbaren. Ihre Sehnsucht nach Authentizität und Wahrhaftigkeit im Menschen und in der Kunst schreit aus ihren Arbeiten. Und findet weltweit Gehör.

Alexandra Bachzetsis mit „2020: Obscene“ am 20. Jänner 2023 im Tanzquartier Wien.

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