Bis heute trägt die Musik der vorvorigen Jahrhunderwende wesentlich zu Wiens Image bei. Jedes Jahr erklingen auf der ganzen Welt zu Neujahr die Walzer der Strauß-Familie. „Alles Walzer“ tönt es einmal im Jahr aus der Staatsoper. Die tänzerische Interpretation von Grete Wiesental und ihren Schwestern ist hingegen weitgehend vergessen. Nun haben sich vier Tänzerinnen auf die Spurensuche dieses speziell wienerischen Tanzstils und das darin ausgedrückte Lebensgefühl begeben.
Grete Wiesenthal und ihre Schwestern hatten sich einem musikalischen Genre zugewandt, das zeitgenössische Choreograf*innen heute keineswegs leichtfertig verwenden: der Populärmusik. Sie haben die Verkörperung des Walzers auf eine künstlerische Ebene gebracht und für die Umsetzung eine eigene Technik entwickelt. (Siehe auch die Wiener Tanzgeschichte auf tanz at über Hedi Richter, die ihre Walzerinterpretationen darauf aufgebaut hat.) In den letzten Jahren hat der Walzer als Gesellschaftstanz durch Shows wie „Dancing Stars“ erneut Beliebtheit erlangt.
Seinerzeit haben sich Paare in inniger Walzer-Umarmung bis ins Delirium getanzt. Doch inwieweit ist der Dreivierteltakt und die damit verbundene gute Laune heute noch in unseren Körpern? Dies überprüfte das Lebendige Tanzarchiv Wien der Tanzwissenschaftlerin Andrea Amort mit vier jungen Tänzerinnen, die darauf ihre eigenen Antworten fanden. Das Ergebnis ihrer Recherche nennen sie „Eine Aneignung“, die für das Publikum mehr oder weniger nachvollziehbar stattfand.
Der Abend wird mit dem Original eröffnet, mit der Wiesenthal-Choreografie „Wein, Weib und Gesang“. Eine beschwipste Person flirtet mit unsichtbaren Partnern, dreht sich ausgelassen durch den Raum und hängt so beglückenden Erinnerungen an eine durchtanzte Nacht nach. Lea Karnutsch bemühte sich redlich, die kleinen Sprünge, schnellen Drehungen und leichtfüßigen Schritte mit dem musikalischen Format zu verbinden. Doch die Fröhlichkeit und der Übermut, den einst zum Beispiel Susanne Kirnbauer (sie leitete die Einstudierung) mit diesem Tanz vermittelte, will sich nicht einstellen. Durch die Lichtstimmung im Sepia-Ton wirkt der Tanz wie eine vergilbte Fotografie.
Im Anschluss präsentierten die Tänzerinnen ihre Kreationen, die durch Wiesenthal inspiriert waren. Bezeichnenderweise griff keine von ihnen dabei auf populäre Walzermusik zurück. Rebekka Pichler wählte Schubert und Beethoven, thematisierte den Konflikt zwischen der Leichtigkeit der Wiesenthal-Tänze und der Schwierigkeit, diese auch umzusetzen. Denn die Wiesenthal-Technik ist schwierig, Ansätze davon sind in Bewegungen und Posen erkennbar.
Katharina Senk beschäftigt sich in ihrem Tanz mit dem Rock als Bewegungspartner. Mit zunehmender Dynamik der Musik steigert sich das Drehmoment, verwandelt sich ihre Mimik zu einem Lächeln. Sie bemüht sich als Einzige die angesprochene Glückseligkeit zu vermitteln, auch wenn sie die Hitze des musikalischen Titels „Fever“ (von Magic Wall 2021) bei weitem nicht erreicht.
Für Lea Karnutsch bedeutet die Auseinandersetzung mit Wiesenthal den Heilungsprozess einer Wunde. Sie nähert sich diesem mit einem Bewegungsrepertoire, das stellenweise Moves aus der heutigen Populärkultur des HipHop evoziert zu Kompositionen von Ferdinand Doblhammer aus dem Jahr 2020.
Eva-Maria Schaller griff zwei Wiesenthal-Choreografien auf. Sie lässt in ihrer Gestaltung, deutliche Anklänge an Wiesenthals Körperhaltung und Bewegungsduktus erkennen, findet aber ihre eigene Antwort auf das „Alegretto“ von Beethoven, ebenso wie in „Ende / Anfang, Der Wind“ auf die Klänge von Franz Schreker. Anders als bei Wiesenthal, die den Wind als Metapher für die aufbrausende Natur junger Menschen verstand, versucht Schaller das Naturereignis als „unsichtbare Kraft“ zu repräsentieren.
Das Fazit des Abends: Glückseligkeit war tatsächlich gestern, doch durch die Auseinandersetzung mit dem Tanzerbe erschließt sich jungen Tänzer*innen ein Wissenspool, auf das nachfolgende Generationen nicht mehr Zugriff haben. In diesem Sinne sind die Bemühungen von Andrea Amort und ihrem Lebendigen Tanzarchiv Wien für die Bedeutung und Geschichte des Tanzes in dieser Stadt von unschätzbarem Wert.
Lebendiges Tanzarchiv Wien: „Glückselig. War gestern, oder?“ Premiere am 30. März 2023 im brut nordwest.