Lediglich im gestochen scharfen Unisono geometrischer Verflechtungen in großen Ensembleformationen, die seit 2016 in München stets fast wie mit dem Lineal gezogen über die Bühne rauschten, waren bisweilen lässliche Ungenauigkeiten merkbar. Der Blick auf die in Serie gezeigten Repertoire-Produktionen zeigte jedoch: Die Präzision der Gruppenarbeit in punkto Räderwerk sich sekundenschnell ändernder Arm- und Fußstellungen funktioniert wieder wie frisch geschmiert.
Mit Laurent Hilaire rückte Anfang Mai 2022 eine gesprächsoffene, publikumsnahe und im Theaterbetrieb präsente Kompetenzperson an der Leitungsspitze nach. Intern entspannte sich das Klima und der Übergang gestaltete sich bruchlos. Hilaire übernahm zudem das komplette, bereits von seinem Vorgänger geplante aktuelle Spielzeit-Programm – inklusive der eindrücklichen modernen, bahnrechend gut von den Tänzerinnen und Tänzern präsentierten Ballettfestwochenpremiere des Choreografen-Duos Léon/Lightfoot. So konnte er als erster ehemaliger französischer Étoile in der Position des Staatsballettchefs in München schon in seiner Auftakt-Saison einen Erfolg nach dem anderen verbuchen.
Im Mai geht es mit der Wiederaufnahme von Roland Petits „Coppélia“ (ab 10.5.) und – nach längerer Spielpause – mit der des romantischen Kassenschlagers „La Bayadére“ (ab 26.5.) in der exotisch ausgestatteten Version von Patrice Bart weiter. Spannend bleibt angesichts der toll aufgestellten Truppe, welche neuen Besetzungen es geben wird. Dass Hilaire seine Tänzer für emotional aufgeladene Rolleninterpretationen intensiv zu coachen weiß, stellte das Hauptpaar Madison Young und der neue Erste Solist Julian MacKay bei seinem Romeo-Debüt in Crankos „Romeo und Julia“ beeindruckend unter Beweis.
Schade nur, dass dem sympathischen MacKay – Münchens jungem „Leonardo di Caprio des Balletts“ – das technisch heikle Trio mit Benvolio und Mercutio (bombig in ihren Double Tours: Ariel Merkuri und Yonah Acosta) vor dem Ball bei den Capulets missglückte. Gewiss nichts, was allzu schlimm wäre. Die Konkurrenz im Ensemble ist momentan allerdings enorm angesichts von Kolleginnen und Kollegen, denen äußerst selten etwas daneben geht.
Das mag den persönlichen Druck steigen lassen, aber auch die Herausforderung, sich hier auf Augenhöhe zu behaupten. Ein absolut exzeptioneller Tänzer wie der Solist Shale Wagman oder António Casalinho als irrsinnig spritziger Luftgeist Ariel in Alexei Ratmanskys „Tschaikowski-Ouvertüren“ oder Puck in John Neumeiers „Sommernachtstraum“ – letzterer erst im Dezember vom Halbsolisten zum Solisten befördert – kann einem da schnell die Butter vom Brot nehmen.
Zum Ausklang der Festwoche war Ratmanskys Shakespeare-Triptychon „Tschaikowski-Ouvertüren“ noch einmal zu sehen: eine atmosphärisch elegante und in ihrem Bewegungsduktus durchweg sehr klassische Produktion mit reichem Aufgebot an fabelhaften Ersten Solisten, Solisten, Demi-Solisten und herausragenden Gruppentänzern. Dank technischer Höchstleistungen ein beeindruckendes Feuerwerk der Virtuosität und Expressivität. München und ganz Bayern darf sich glücklich schätzen, über eine solch’ profilierte Kompanie mit derart facettenreicher Bandbreite zu verfügen.
Bayerisches Staatsballett: Ballettfestwoche, 31. März bis 8. April 2023 im Nationaltheater München