Die neun jungen TänzerInnen des belgischen Ensembles „fABULEUS“ setzten sich unter der Leitung des ChoreografInnen-Duos Elisabeth Borgermans und Thomas Vantuycom mit der Ballett-Musik „Petruschka“ von Igor Strawinski auseinander. Sich der Strahlkraft des unterBrad Lubman live spielenden Tonkünstler-Orchesters (TON) und der Wucht der Komposition tänzerisch zu stellen erwies sich trotz aller Abstraktion als Herausforderung.
Igor Strawinski revolutionierte mit seinen Kompositionen die Orchestermusik. Im frühen 20. Jahrhundert entstanden Meilensteine der Ballett-Musik. Dem noch spätromantischen „Der Feuervogel“ (1910) ließ er 1911 „Petruschka“ und 1913 „Le Sacre du Printemps“ folgen (um nur die wichtigsten zu nennen). Für „Petruschka“ entwickelte Strawinski eine ganz neue musikalische Sprache, die neben ihrer dominanten Rhythmik und völlig neuen Akkorden weitgehend auf Melodien verzichtete. Wenn er solche komponierte, dann als sogenannte objets trouvés, bearbeitete Zitate russischer Volkslieder und französischer Chansons. Für seine hier verwendete Fassung von 1947 verkleinerte und konzentrierte Strawinski das Orchester und rückte das Werk weg vom noch Impressionistischen der Originalversion hin zu einem klareren, herberen und kantigeren Duktus.
Die Geschichte des Balletts Petruschka, die im Jahre 1830 auf einem Jahrmarkt in St. Petersburg spielt und von drei zum Leben erweckten Puppen handelt, beschreibt in seiner im Jahre 1911 in der Choreografie von Michel Fokine von den Ballets Russes uraufgeführten Version in vier Bildern die unglückliche Liebe des Kaspers Petruschka zur Ballerina, die sich jedoch zum dümmlichen Mohren hingezogen fühlt, der Petruschka am Ende tötet. Der despotische Gaukler flieht feige.
Jenseits des von Strawinski gemeinsam mit Alexander Benois verfassten Librettos beschreiben die beiden ChoreografInnen den Charakter der Musik als „An-Aus“ und damit an Elektrizität erinnernd. Neben der sprunghaften Übergangslosigkeit, mit der die Teile der Komposition aufeinander folgen, ist deren energetische, elektrisierende Direktheit ein weiterer Aspekt, der sie zum Titel der Arbeit „Electric Life“ führte.
Elisabeth Borgermans und Thomas Vantuycom, geboren 1982 und 1989 und damit selbst noch einer eher jüngeren Generation angehörend, schufen in Anlehnung an das „formale Experiment“ mit „Petruschka“ eine Choreografie, die die Geometrie des Körpers und die des Körpers im Raum in das Zentrum der tänzerischen Umsetzung stellt. Die dabei durchscheinende Subjektivität im Bewegungsmaterial, das Einbringen individueller Präferenzen und Ausbildungs-Hintergründe erzeugen das Bild eines breitbasig-offenen KünstlerInnen-Kollektives auf der Bühne, dessen Reifeprozess in vollem Gange ist. Von klassischen Moves bis zu Urban Dance zeigen sie Vielfalt.
Trotz des hohen Abstraktions-Niveaus gibt es mehrere ineinander verwobene Geschichten. Die eine ist die der Annäherung der Jungen an die Fremdartigkeit der Musik. Im Verlaufe des Abends lassen sie sich einfangen. Ihr anfänglich konzeptueller und der Musik in Metrik und Duktus widerständig begegnender oder sie brechender Tanz nähert sich zunehmend den musikalischen Strukturen bis hin zur zeitweisen interpretativen und illustrierenden Verschmelzung mit den eh nur kurzen, episodenhaften Sequenzen in deren Rhythmus, Instrumentierung und Ausdruck. Selbst Zungen werden kurz gebleckt und mimisch Emotionen artikuliert, wenn auch mit kühlender Distanz zum Stoff.
Der, das Libretto also, bleibt in der Musik. Der Tanz, und hier eine weitere Geschichte, spielt mit Andeutungen, Ahnungen, Verfremdungen. Nur kurz vermeint man in all den körper- und stellungs-geometrischen Spielereien Liebe, Hass, Eifersucht oder Demütigung zu sehen, bevor sie sich im Nebel des „Flirtens mit der Erzählung“, so die beiden ChoreografInnen, und in dem der Abstraktion wieder verlieren. Den auf der Bühne oft dargestellten BeobachterInnen werden wie den Besuchern eines Jahrmarktes, und uns Zuschauenden, Emotionen wie sich schnell verflüchtigende Illusionen präsentiert. Der Gaukler ist dämonischer Geist im Innen und im Außen.
Eine dritte Ebene induziert die Musik mit ihrer scheinbaren Orientierungs- und Bodenlosigkeit, die die Werte-Gefüge der Welt vor dem ersten und die einer zwei Mal zerrütteten Weltordnung nach dem zweiten Weltkrieg zur Disposition stellt. Aus den dissonant geschichteten Klangteppichen steigen musikalische Strukturen auf wie aus klassischem und Volkstanz zeitgenössisches und Urban Material. Die körperlichen und seelischen Traumatisierungen durch zwei Weltkriege und die vieldeutige Metapher des Gauklers, der seine Puppen steuert und drangsaliert, bringt das Stück ebenso auf die Bühne wie den Willen der Jugend zu Widerstand und Bewältigung.
Das Orchesterwerk „Petruschka“ ist schlichtweg überwältigend und wurde von den Tonkünstlern feinnervig-kraftvoll intoniert. Die Dichte und die fast brachialen Stimmungswechsel der Komposition halten einen vom ersten Augenblick an bis zum letzten langen Ton, mit dem das Werk ausklingt, gefangen. Was dem Tanz nicht gelingt. Hinter der ungeheuren Innovationskraft der Musik, ihrer wegweisenden Diversität in Rhythmik, Klang und Stimmung, ihrer geradezu hellsichtigen Antizipation künftiger gesellschaftlicher, technischer und geopolitischer Konstellationen und Entwicklungen und der exzellenten Interpretation durch das Tonkünstler-Orchester musste die junge Kompanie mit ihrem weitgehend emotionslosen, rationalen, experimentellen Konzept zurückbleiben. Musik und Tanz binden auf ihre eigene Weise Tradition und Moderne, erzählen mit ihren Mitteln vom Umgang mit Überliefertem und Neuem und, mehr oder weniger, radikalem Auf-Bruch. Dennoch: Die tänzerischen Leistungen sind beachtenswert und offenbaren viel Potential.
Der Tanz zeigt die Konfrontation der Jugend mit nicht nur kulturellem, sondern auch psychischem Erbe und entwirft ein düsteres und zugleich von Hoffnung und dem Willen zur Veränderung durchdrungenes Bild. Das Zusammensinken der dicht gedrängt stehenden Menge im verblassenden Lichtkegel und zum lange ausklingenden letzten Ton jedoch, der gewaltsame Tod Petruschkas als kollektives Ereignis, bleibt stehen wie eine Mahnung an die Älteren. Den Gaukler.
fABULEUS und das Tonkünstler-Orchester mit „Electric Life“ am 06.05.2023 im Festspielhaus St. Pölten.