Alles ist da: bildstarke Stimmungen, nordisches Flair in der farbigen Kostümwelt von Thomas Kaiser und – als Projektion – das Dorf, in dem Peer Gynt aufwächst. Doch Kirche und Häuser sind nur zartblass auf dem Rundhorizont zu sehen, der die Bühne nach hinten abschließt. Wenn sich dahinziehende Nebelschwaden verdichten und wieder auflockern, wird klar, dass Christian Gasteiger und Raphael Kurig für jede von Karl Alfred Schreiners „Peer Gynt“-Szenen andere Videoimpressionen parat haben. Der gesamte Ballettabend erhält so einen stets unaufdringlich stimmigen und zugleich unglaublich atmosphärischen Rahmen.
Konsequent und bravourös umschifft Schreiner die Gefahr, ins allzu Plakative oder gar Peinliche abzurutschen. Stattdessen lässt er die Ausgelassenheit einer dörflichen Hochzeitsparty in Zeitlupe stattfinden – bilderbuchhaft skizziert als hübscher Fries aus Tanzenden mit verschränkten Armen. Sogar der inszenatorisch heiklen Begegnung mit Anitra verleiht er in einer Art Harems-Bild mit einer sofaartigen Arena Doppelbödigkeit, indem er die erotisch aufgeladene Partie der allen bis hin zum Knopfgießer den Kopf verdrehenden Femme fatale erst mit jazzigem, dann bewegungstechnisch verführerisch fluiden Duktus der Solveig-Protagonistin anvertraut.
Noch bevor die Vorstellung anfängt, erscheinen Schlüsselwörter auf einem Zwischenvorhang: Schwätzer, Prahler, Träumer, Hochstapler, Lügner… Keine schlechte Idee, da gerade die Figur des Peer Gynt eine im Grunde völlig unfassbare ist. Als der Knopfgießer – in Henrik Ibsens 1876 in Oslo uraufgeführtem Schauspiel eine eher kleine Rolle – Peer mit seinem Komplettversagen in der grundexistenziellen Sache Leben konfrontiert, fehlt dessen Persönlichkeit jedweder Kern. Für den Himmel ist Peer Gynt zwar zu schlecht, aber auch kein wahrhafter Sünder.
Genau hier setzt Karl Alfred Schreiner mit seiner Tanzversion des ursprünglich als „dramatisches Gedicht“ bezeichneten Theaterstücks an: Der Knopfgießer wird zum sprechenden Spielmacher des Ganzen und ist von Beginn an dabei. Mephistomäßig und manchmal gar nosferatuhaft wird er von Erwing Windegger verkörpert: in schwarzem Outfit, barfuß und mit weißem Gesicht – wie für eine Butoh-Inszenierung geschminkt.„Tschuldigung, bist du Peer?“ fragt er den am Boden liegenden Tänzer. Alexander Hille, intensiver Interpret des Peer Gynt, springt auf und zwischen den beiden entwickelt sich ein Dialog, der bis zum Schluss nicht mehr abreißen wird. Text und Choreografie verschmelzen, wobei das, was Windegger mit seinem reichen Register an Farben spricht, bei seinem Gegenüber Bewegungsregungen motiviert beziehungsweise den nächsten Teil von Peers Schilderungen anstößt.
Kaum etwas erscheint wirklich real, denn Schreiner rollt seine Inszenierung geschickt von hinten auf. Er findet zudem choreografisch überzeugende Lösungen, um das Fiktionale und die Dimension von Peers Lügengeschichten deutlich zu machen. Besonders zeigt sich das zu Beginn, wo er Peer – mit ausdrücklichem Blick auf den Knopfgießer, dem dieser ja entkommen will – Posen der anderen Tänzer zurechtrücken und Gestalten um sich herum verschieben lässt im herrlich multifunktionalen Einheitsbühnenbild von Heiko Pfützner.
Schon bald interagiert Peer mit seinen ihm in jeder Lebensphase zugeordneten Alter Egos. Als erstes von diesen legt sich Ethan Ribeiro in einem akrobatisch-tolldreisten Pas de deux mit dem viel größeren Tänzer Willer Gonçalves Rocha als Aslak an und rennt mit dessen Braut Ingrid (Jana Baldovino) davon. Die Suche nach dem eigentlichen Ich gipfelt in einem Duett von Peer mit sich selbst als Heimkehrer (David Valencia). Letzteren erwürgt nach einer stürmischen Schiffsfahrt Knopfgießer Windegger.
Schreiner schöpft aus dem Vollen, übertreibt seine vielen Einfälle jedoch nie. Der wortgewandt oft sehr emotional auftretende Knopfgießer darf zwischendurch auch Passagen des Trollkönigs sprechen – tänzerisch ganz fabelhaft, nahezu knochenlos und überhaupt nicht tollpatschig-banal dargestellt von Kompanieneuzugang Gjergji Meshaj. Bei Ǻses Tod darf der Knopfgießer für einen Moment sogar in die Haut der Hauptfigur selbst schlüpfen, als Peer aus Empathie zu seiner sterbenden Mutter die Armut wegzuflunkern versucht. Regelrecht sinfonisch entwickelt Schreiner diese zentrale Szene seines Stücks weiter.
Griegs musikalischer Kosmos verstummt hier. Emily Yetta Wohl, Interpretin der Mutter, erhebt sich von ihrem Totenbett. Das Orchester unter Leitung von Michael Brandstätter erschafft aus den Noten zu „Oceans“ der zeitgenössischen isländischen Komponistin María Huld Markan Sigfúsdóttir einen sich zart im Raum entfaltenden Klangteppich. Nach und nach tauchen quasi unbekleidete Tänzerinnen und Tänzer auf. Es bildet sich eine Gruppe um die Mutter, eine andere nimmt den Sohn in ihre Mitte. Peers berührender Abschied von Ǻse ist an diesem Abend das sinnfälligste Bild.
Dass Peer am Ende Zeit für ein finales, liebevoll-zärtliches Duett und Aufschub vom Tod erhält, passt wunderbar zu seinem weniger narzisstisch als schelmenhaft herausgearbeiteten Profil. Schreiners „Peer Gynt“ ist „großes Theater“ und als Ballett in Struktur wie Stringenz sein Münchner Meisterstück bislang. Und noch dazu bietet dieser Abend eine ideale, poetische Ergänzung zu Sebastian Baumgartens aktueller, psychisch knallhart sezierender Schauspielinszenierung am Münchner Residenztheater.
Ballett des Münchner Gärtnerplatztheaters: „Peer Gynt“ von Karl Alfred Schreiner. Premiere am 24. November 2023 am Residenztheater. Nächste Vorstellungen: 2., 6., 15., 16., 19., 21. Dezember. www.gaertnerplatztheater.de