Verführung im Zeichen der Galanterie. Warum sucht ein zeitgenössischer Choreograf den Schulterschluss mit der Musik Mozarts? In Angelin Preljocajs „Le Parc“, das 1994 als Auftragswerk für das Ballett der Pariser Oper entstanden ist, begegnen sich Frauen und Männer in einer fiktiven Parkanlage des 18. Jahrhunderts. Laurent Hilaire präsentiert damit sein erstes Signaturstück als Münchner Ballettchef.
Bewegungsmäßig geht es dort ebenso hierarchisch streng wie freizügig zu. Bei aller barocken Weitläufigkeit mutet das farbmatte und ein wenig lattenholzsteife Bühnenbild von Thierry Leproust als ideal abstrahierter Handlungsort an. Alles scheint dort nur dem einen Ziel zu dienen: gegenseitiger Verführung. Und alles atmet das Flair französischen Esprits. Solche historisierenden Versuchsanordnungen können faszinierend sein, bleiben jedoch stets in der Gefahr, schnell langweilig zu werden. Die Neueinstudierung von „Le Parc“ durch das Bayerische Staatsballett erweist am Premierenabend die Zeitlosigkeit von Preljocajs fast 30 Jahre altem Ballettwurf.
Zu Mozarts Adagio und Fuge in c-moll wird zu Beginn über die Bühne geschritten. Tänzerinnen und Tänzer in Rock, Weste und Kniebundhose (Kostüme: Hervé Pierre) scannen ihre wechselnden Gegenüber mit Blicken, während sie vor einem stimmungsvoll bewölkten Hintergrund umeinander her flanieren. Irgendwann stellt Margarita Fernandes ihren Gartenstuhl mit lautem Nachdruck in der Mitte ab. Es ist die subtile Aufforderung zu einem Spiel, bei dem sich die Geschlechter übermütig-frech, von sich selbst überzeugt und auch leicht frivol Schritt für Schritt näher kommen sollen. Schnell stimmen alle ein, wobei zwei von Fernandes’ Kolleginnen die Aufmerksamkeit durch das Ausbleiben des Aufsetz-Geräuschs des Stuhls auf sich lenken. Ein für jene Epoche typischer Schachzug ist das, in der Preljocaj sein Ballett atmosphärisch, modisch, inhaltlich, stilistisch, gesellschaftlich und philosophisch angesiedelt hat: in der Ära intellektuellen Einfallsreichtums.
Denn in einer vom Absolutismus geprägten Klassengesellschaft brauchte der Adel Esprit, um dem Ennui am Hofe – der Langeweile des rein Äußerlichen – zu entgehen. Davon ist alles, was „Le Parc“ ausstrahlen soll, durch und durch geprägt. Vielleicht passt Angelin Preljocajs jetzt dritte und erste abendfüllende Produktion in München – nach dem Quartett „Larmes Blanches“ (1992) und Stravinskys „Feuervogel“ (1995) – deswegen so befremdlich-gut ins Nationaltheater. Zumal, weil Mozart – dem Paris eine Stelle verweigerte, was dieser durchaus übelnahm – hier seines schier unglaublichen musikalischen Geistreichtums wegen einer der Hausgötter ist. Trotz vieler stiller und zeitlich gedehnter Passagen wird „Le Parc“ dadurch zu etwas insgesamt wunderbar Komplexem, was dem Pianisten Dmitry Mayboroda in den langsamen Klavierkonzert-Passagen zu den drei großen Pas de deux des Hauptpaars als Höhepunkt eines jeden Akts hervorragend herauszuarbeiten gelingt.
Die Handlung ist so simpel wie emotional vertrackt. Wenn die Premierenbesetzung Julian MacKay beim Renn- und Wechsel-die-Plätze-Spiel Madison Young – zufällig oder absichtlich? – von ihrem Sitz schubst, explodieren die Gefühle. Die Bühne leert sich. Zurück bleiben die beiden Ersten Solisten, die das Stück inhaltlich allein aufgrund der Steigerung ihrer amourösen Beziehung tragen – vom ersten Kennenlernen bis zum sich küssenden Rotieren aus Liebe. Spannungsmomente sind, als sich Young zuerst ziert, zum Schluss aber zu allem entschlossen an den Lippen des Geliebten andockt. Im zweiten, schon intimeren Rendezvous lässt MacKay an seinem Begehren keine Zweifel. Wiederholt reißt er – darstellerisch sehr intensiv – die Partnerin mit leidenschaftlicher Vehemenz an sich. Dass den Choreografen unter anderem de Laclos’ „Gefährliche Liebschaften“ im Zuge seiner „Le Parc“-Kreation inspiriert hatten, sieht man in Youngs Ausdrucksweise besonders schön durchschimmern, wenn die Gefühlswelt in ihrem Inneren zwischen der Lust oszilliert, dem Mann nachzugeben bzw. seinen Avancen zu widerstehen.
Orchestersatt-launig bringen Mozarts „Deutsche Tänze“ dagegen ein Kaleidoskop menschlicher Umtriebigkeit in Schwung. Aus dem ersten Zusammentreffen in vermeintlich freizügiger Parknatur entwickelt sich eine getanzte Palette an Gruppenformationen, dann Soli, Duetten oder Quartetten: Strategien dazu ersonnen, Liebe zu entfachen – was Matteo Dilaghi, Konstantin Ivkin, Andrea Marino und Rafael Vedra eindrücklich-witzig, zwischendurch rein körpersprachlich mit Schmerz, Frust und Kummer Verlassener bezahlen müssen. Die Damenriege macht den ersten Zug. Anfangs regiert noch der Verhaltenskodex – demonstriert am Zurechtzupfen der Ärmelspitzen. Später befreien sich die Frauen aus ihrem Korsett, aufgrund dessen sie unter den opulenten Roben atemlos im zweiten Akt reihenweise in Ohnmacht fallen. In Schäferstündchen an massiven Baumstämmen durchbricht man kollektiv das Regelwerk der vordergründig keusch-braven Etikette.
Doch in „Le Parc“ regiert noch eine weit mysteriösere, mechanisch wie ein Uhrwerk tanzende Macht. Severin Brunnhuber, Nikita Kirbitov, Sava Milojević und Zachary Rogers geben ein fantastisch-schematisiertes Kleeblatt von Gärtnern ab. Einzig Madison Young kommt in einer traumwandlerischen Sequenz mit ihnen, ihrem speziellen Bewegungsvokabular und ihrem vom Band zugespielten Klangkosmos voller Geräusche und Stimmen (Goran Vejvoda) in Kontakt. Für sich isoliert leiten sie alle drei Akte des pausenlosen Balletts ein und beschließen das Stück. Entfernt sind spielende Kinder zu hören. Dieser Abend ist ein Geschenk – wegen Mozarts zutiefst menschlicher Musik, wegen Preljocajs keineswegs in die Jahre gekommener Neuinterpretation der französischen Tanzklassik und nicht zuletzt wegen den wunderbaren Interpreten des Bayerischen Staatsballetts.
Bayerisches Staatsballett: „Le Parc“, Premiere am 25. November 2023 in der Bayerischen Staatsoper. Nächste Vorstellungen am 1., 9., 10., 22. Dezember.