Mit der einzigartigen Verschränkung der Geschichten von Marguerite und Armand mit Manon und Des Grieux hat John Neumeier 1978 ein ikonografisches Meisterwerk des Handlungsballetts kreiert. Nun ist „Die Kameliendame“ endlich auch in Wien gelandet und bietet mit eine Reihe alternativer Besetzungen verschiedene Blickwinkel auf die emotionale Achterbahn der Charaktere. Dadurch wird das Ballett den differenzierten Beobachtungen und raffinierten Beschreibungen von gesellschaftlichen Zuständen in Alexandre Dumas' gleichnamigen Roman umfassend gerecht.
Seit seiner Veröffentlichung 1848 hat das epochale Werk der französischen Litertur „La Dame aux camélias“ von Alexandre Dumas d.J. immer wieder Künstler*innen zu eigenen Reflexionen über das Wesen von Marguerite und Armand und deren Beziehung inspiriert. Hier die „femme entretenue“, unweigerlich verknüpft mit der Halbwelt, dort der Spross aus gutbürgerlichem Hause, gefangen in einer Amour fou, die angesichts gesellschaftlicher Zwänge nicht bestehen kann.
Die berühmteste Übertragung in ein anderes Medium ist wohl Verdis Oper „La Traviata“, aber auch zahlreiche Filmemacher, Theaterregisseure und Choreografen haben sich mit der tragischen Liebesgeschichte auseinandergesetzt. Und die ist schnell erzählt: Armand verliebt sich in die Nobelkurtisane Marguerite, die an einem Lungenleiden erkrankt ist und dennoch (oder vielleicht deshalb) das schicke Pariser Leben mit einer Schar von Verehrern und Gönnern in vollen Zügen genießt. Durch seine Empathie und Anteilnahme erscheint ihr Armand in einem anderen Licht als die anderen. Sie erhört sein Flehen und verliebt sich ebenfalls Hals über Kopf in ihn. Sie verbringen einige Monate zusammen auf dem Land, bis Armands Vater – ohne das Wissen seines Sohnes – Marguerite bittet auf die Verbindung zu verzichten, um den Ruf der Familie nicht unwiderbringlich zu gefährden. Schmerzerfüllt verzichtet sie auf die Liebe und kehrt in die Pariser Vergnügungswelt zurück. Armand folgt seinem Vater. Doch, scheinbar betrogen, ist er nun auf Rache aus: er verleumdet und demütigt und verletzt sie zutiefst. Ihre Krankheit holt sie schließlich ein und sie stirbt – allein. Er trifft erst zur Versteigerung ihres Nachlasses ein und erhält das Tagebuch, das Marguerite in ihren letzten Stunden für ihn geschrieben hat. Erst jetzt erfährt er die Wahrheit.
In Neumeiers Ballett wird die Geschichte in Rückblenden aufgerollt und beginnt mit der Auktion. (Bereits bei der Entstehung des Balletts 1978 für das Stuttgarter Ballett hatte Neumeier eine Filmversion im Auge, die neun Jahre später – mit Marcia Haydée, Ivan Liška, François Klaus, Colleen Scott und Vladimir Klos in den Hauptrollen – realisiert wurde.)
In der „Übersetzung“ in Bewegungssprache wird der Plot zwangsläufig auf einige, wesentliche Stationen beschränkt. Doch John Neumeier verknüpft dramaturgisch geschickt die Geschichte mit jener von Manon Lescaut, deren Schicksal Ähnlichkeiten mit Marguerite aufweist. Auch im Dumas‘ Roman spielt das Buch von Abbé Prévost eine Schlüsselrolle, das ebenfalls Eingang in die Opern- und Ballettliteratur gefunden hat. Die Vorstellung von Manon und Des Grieux, bei der sie sich kennenlernen, wird zur Projektionsfläche von Marguerite und Armand.
Neumeier erzählt diese Geschichte mit großartigen Pas de deux, dynamischen Ensembleszenen, die die hedonistische Lebenslust auf die Spitze treiben, und humoristischen Einschüben, etwa durch den tollpatschigen Grafen N., einen der glühendsten Verehrer von Marguerite.
Jürgen Rose hat dafür ein wunderbar elegantes, einfaches und doch raffiniertes Bühnenbild gestaltet, bei dem man mühelos von einem Schauplatz zum nächsten transportiert wird. Die aufwändigen Kostüme der Damen stellten bei der Premiere angesichts der komplexen Hebefiguren, die Neumeier choreografiert hat, eine Herausforderung dar. Da verhedderte sich schon einmal der Kopf des Partners in den Tüllröcken und beraubte ihn der Sicht, was einerseits auch als metaphorische Bedeutungsebene gelten kann. Andererseits hatten sich die Verwirrungen in der zweiten Vorstellung weitgehend geklärt.
Musikalisch konzentriert sich das Stück ganz auf Frédéric Chopin. Während die Zeit in Paris mit Klavierkonzerten und -sonaten begleitet wird (Musikalische Leitung: Markus Lehtinen), hört man im zweiten Akt, der die Liebesbeziehung von Marguerite und Armand auf dem Land behandelt, lediglich Klavier, grandios gespielt von Michał Białk im Orchestergraben und auf der Bühne von Igor Zapravdin.
Stufenreihen von Gefühlen
In seiner Choreografie verzichtet Neumeier ganz auf pantomimische Elemente, und doch ist jede Geste mit Bedeutung aufgeladen. In der Interpretation der Charaktere wird jede Tänzerin, jeder Tänzer seine / ihre eigene Lesart der konfliktiven Emotionen widergeben. Erst durch unterschiedliche Besetzungen wird diese, wie Dumas sie nennt , „Stufenreihe von Gefühlen“ der handelnden Personen sichtbar, werden die Nuancen der Textvorlage, wird die kluge Auseinandersetzung von Marguerite mit ihrem Leben, ihren Beweggründen und ihrem widerstrebenden Erwartungen deutlich.
Die Premierenbesetzung (24. März) mit Ketevan Papava und Timoor Afshan, gefolgt von Olga Esina und Brendan Saye (26. März) bieten daher interessante Vergleichsmöglichkeiten. Papava scheint die Rolle der Marguerite mit einer Vorahnung an das tragische Ende anzulegen. Timoor Afshar, der seit dieser Saison sein erstes Engagement als Solotänzer beim Wiener Staatsballett antrat, wirkt gegenüber der ausdrucksstarken Tänzerin als ein naiver Armand, der unmittelbar auf Situationen reagiert und in seiner gekränkten Eitelkeit an Sympathie verliert. Esina und Saye vermitteln hingegen berührend das gesamte Spektrum subtiler emotionaler Veränderungen, von der verspielten Verliebtheit über die Innigkeit der Beziehung bis zum Bruch und der tiefen Enttäuschung.
Die Solist*innen ebenso wie das gesamte Ensemble des Wiener Staatsballetts tanzen in beiden Vorstellungen formidabel. Als Manon und Des Grieux brillieren Marcos Menha und Hyo-Jung Kang bei der Premiere, Kiyoka Hashimoto und Masayu Kimoto bei der zweiten Vorstellung.
Ioanna Avraam und Alaia Rogers-Maman überzeugen als Marguerites (durchaus doppeldeutige) Vertraute Prudence Duvernoy sowie Masayu Kimoto und Arne Vandervelde als Armands Freund Gaston Rieux. Elena Bottaro und Eszter Ledán setzen als Olympia ihre Verführungskünste gleichermaßen bezaubernd wie berechnend ein.
Eine Herausforderung stellt die Rolle von Armands Vater, Monsieur Duval, dar. Nicht nur, weil er für einen Großteil der Vorstellung auf der Bühne präsent ist. Der komplexe Charakter sollte Autorität mit der Fähigkeit zur Vergebung, Kontrolle mit Mitgefühl, Strenge mit Empathie verbinden. Bei der Premiere setzte Eno Peci hier darstellerische Maßstäbe, die Marcos Menha in der zweiten Vorstellung nicht erreichen konnte.
Die unterschiedlichen Zugänge der Tänzer*innen machen also jeden Abend einzigartig. Eine weitere Variante bieten Elena Bottaro und Davide Dato am 5. April.
Wiener Staatsballett: „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Permiere am 24. März, zweite Vorstellung am 26. März in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen: 5., 7., 12., 15., 17., 22., 27. April, 1. und 4. Mai
Dritte Besetzung: In the Cool
Anfang April gab es zwei Vorstellungen mit Elena Bottaro als Marguerite und Davide Dato als Armand. Beide sind ausgezeichnete Tänzer*innen und tanzen die Choreografie korrekt und gefällig. Elena Bottaro kommt jedoch nicht aus ihrem Ballerinen-Modus heraus und tut sich mit Neumeiers emotional aufgeladener Bewegungssprache schwer – denn diese ist nicht immer klassisch elegant.
Jackson Carroll ist einer jener Tänzer, die aus jeder Nebenrolle alles herausholen. Hier als Graf N., der sich in seiner Hingabe zu Marguerite zum Trottel herabwürdigen lässt. Dagegen ist die Fummelei und das Gegrapsche, mit denen die anderen Verehrer ihr Subjekt der Begierde überschütten, maßlos übertrieben.
Davide Dato überzeugt weniger als Liebhaber denn als gekränkter, rachsüchtiger Macho, als der Armand Marguerite fertig zu machen sucht. Perfekt gelingt die Spiegelung in perfektem Einklang mit Alexey Popov als Des Grieux. Liudmila Konovalovas Manon ist durchwegs eiskalt berechnend und vermag auch in der Todesszene kein Mitgefühl zu wecken. Auch Zsolt Török kann als Vater die widerstrebenden Emotionen der Rolle nicht glaubwürdig verkörpern, sondern bleibt durchwegs cool und unnahbar.
Highlights setzten bei dieser Aufführung am 7. April Giorgio Fourés und Aleksandra Liashenko als Gaston Rieux und Prudence Duvernoy, die mit ihrem aufgeräumten Spiel und makellosem Tanz durchwegs eine spielerische Note ins Geschehen bringen.
Musikalisch souverän das Orchester und Pianisten, an diesem Abend Uwe Kern und Korrepetitor Igor Zapravdin.
Der Abschnitt "Dritte Besetzung: In the Cool" wurde am 8. April, 23 Uhr hinzugefügt.