Jérôme Bel, der wohl erfolgreichste Konzeptchoreograf, ist von den dekonstruktivistischen Denkern der Postmoderne inspiriert. Immer wieder erfand er neue Formate, die mit dem “Spektakel” im Theater brachen und jenseits von Virtuosität, ja von Bühnentanz im herkömmlichen Sinne, landeten. Dennoch waren seiner Arbeiten von einer theatralen Leichtigkeit, humorvoll und unterhaltsam. 2019 zeigte Impulstanz den Film “Retrospective”, in dem sein künstlerischer Werdegang zusammengefasst wurde (tanz.at berichtete). In seinem jüngsten Werk “Non Human Dances” hat sich der überzeugte Klimaschützer nun mit der Wissenschaft verbandelt und dabei vorerst seine Stärken verspielt.
Mit seinen “Non Human Dances” setzt Jérôme Bel auf einen Trend: Die Verbindung von Wissenschaft und Kunst ist mittlerweile nicht nur angesagt, sondern hat sich bereits im Akronym STEAM manifestiert, wo sich Arts zwischen Science, Technology, Engineering, Mathematics (STEM) platziert hat. Die Beziehung ist vorerst sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst im Experimentierstadium und als solch ein Versuch kann auch Bels Arbeit gesehen werden. In diesem Feld bietet sich die Kunsthistorikern Estelle Zhong Mengual als Partnerin geradezu an: ihre Forschung beschäftigt sich mit der Entwicklung einer Umweltgeschichte der Kunst und sie unterrichtet im Masterprogramm Master d'Expérimentation en Art et Politique in Paris.
Sie moderiert den Abend, an dem Tänze gezeigt werden, die sich mit der Natur befassen, sei es mit der Sonne als Glorifizierung des Sonnenkönigs Louis XIV in einer Nachempfindung des barocken Tanzes (von Gaspard Charon); mit der Verkörperung des Schwans in “Schwanensee”, die Zhong Mengual als Karikatur charakterisiert; mit der Interpretation von Wasser bei Isadora Duncan, die angeblich menschliche Leidenschaft präsentiere. Am nächsten kommt laut der Wissenschaftlerin Loïe Fuller an die Natur heran – Duncan und Fuller wurden übrigens wunderbar von Elisabeth Schwartz interpretiert – bzw. das zum Abschluss gezeigte “The Lions' Vocabulary” von Xavier Le Roy.
Ob es beabsichtigt ist, dass die Kurzvorträge der Moderatorin mit zunehmender Dauer des Stückes gedämpfter ausfallen oder ob es einfach an deren Bühnen-Unerfahrenheit liegt, ist nicht auszumachen. Jedenfalls kommt bei dieser 70-minütigen Lecture demonstration, die mit einer Erklärung über die Entwicklung der menschlichen Hand als Evolution der Primaten schließt, keine theatrale Spannung auf, wird die Message nicht wirklich nachvollziehbar. Am Ende dieser Versuchsanordnung über die Bemühungen Nicht-Menschliches mit unseren menschlichen Körpern zu imitieren, ja zu verkörpern, steht die Frage: So what?
Nachhaltig bleibt Pina Bausch’ Tanz der Jahreszeiten aus ihrem Stück “Nelken” in Erinnerung. Zur Musik von Louis Amstrong defilieren die Tänzer*innen über die Bühne, mit einfachen, jeweils einer Jahreszeit entsprechenden Gesten, die sie in einer Endlosschleife wiederholen. Doch hier geht es nicht darum die Jahreszeiten darzustellen. Vielmehr bilden das wachsende Gras, die fallenden Blätter und das winterliche Frösteln einen unterhaltsamen Ausgangspunkt für einen Flirt mit dem Publikum. Und diese künstlerische Findigkeit fehlt den “Non Human Dances”. Um sie wiederzufinden, braucht Jérôme Bel wohl noch einige STEAM Experimente mehr.
Jérôme Bel / Estelle Zhong Mengual: “Non Human Dances” am 9. August 2024 im Volkstheater im Rahmen von Impulstanz.