Richtungsweisende Werke verlieren nicht an Kraft: Dies zeigte sich am Publikumsinteresse bei der Eröffnung der Tanzsaison im Grazer Opernhaus sowie an den Standing Ovations am Ende dieser ersten Premiere mit Choreografien von Louis Stiens und George Céspedes in dieser Spielzeit.
Vor allem zeigte sich aber die Stärke der an diesem zweiteiligen Abend präsentierten Choreografien dreier Musikstücke einerseits an den Werken selbst, andererseits und ganz besonders an deren Potential einer zeitimmanenten Interpretation, die von Louis Stiens, geboren in Deutschland und von George Céspedes aus Kuba sehr überzeugend genutzt wurde.
„Fieber“
Etwas kraftlos und verunsichert quert der Bock-Füßige, der Faun, die leere Bühne: Der die Natur Beschützende findet von ihr nur mehr wenig von dem, was ihm des Schutzes wert scheint und ist. Dieses kurze ‚Vorspiel‘ skizziert die Thematik von Stiens choreografischer Auseinandersetzung mit dem aktuellen Zustand unseres Planeten. Seine szenisch aufgebaute, gut 30minütige Choreografie ist ein im Fiebertaumel sich befindendes Tableau einer Endzeit, der Endzeit unserer Erde.
In hautfarbenen Overalls (auch für diese zeichnet er verantwortlich) bewege sich die Menschen mit angestrengt hitzig roten Wangen weitgehend ziel- und hilflos – nichtsdestoweniger überlegt choreografiert – durch den Raum. Häufig suchen sie Halt am Boden, gleiten reptilienartig über diesen, winden sich scheinbar rückgratlos im Stehen und Gehen. Es sind auf ihre nackte Haut reduzierte Lebewesen.
Hin und wieder, wenn sie in einem trachtenartigen, grün-lila gefärbelten Kostüm kurzzeitig die Bühne, ihre ureigene Welt ‚zurückerobern‘, stehen und agieren sie anklagend für eine vergewaltigte, bedenkenlos genutzte, schamlos vereinnahmte und behübschte Natur.
Die die impressionistische Klangwelt Maurice Ravels („Ma mère l’oye“) und Claude Debussys („Prélude à l’après-midi d’un faune“) in ihrer Komposition zitierende Klangkünstlerin Anni Nöps bietet eine Art musikalischen Kontrapunkt; lässt sie doch in den Klängen Natur-Gegebenes, -Gewachsenes noch ahnen. Allerdings mehrfach und deutlich unterbrochen von Donnergroll – oder handelt es sich doch um Schüsse, Detonationen, Bombeneinschläge…?
Noch radikaler führt die Kostüm- und Bühnenbildnerin Bettina Katja Lange, die eine enge künstlerische Partnerin des Choreografen ist, mittels imposantem Felsgebilde, das nahezu als zusätzlicher Protagonist agiert, vor Augen, wie sehr auch dieses schon seiner eigentlichen Natur beraubt ist: Nur allzu deutlich ist immer wieder die Tragekonstruktion des Felsen respektive seiner verbliebenen dünnen „natürlichen“ Restoberfläche zu sehen.
Den Halt und struktursuchenden Menschen ist er kurzzeitig Ruhepol, gleichzeitig aber weder fassbare noch beständige Unterstützung oder gar schutzgebender Raum sowie so manches Mal auch bedrohlich.
Ein einfühlsames Lichtdesign (Johannes Schadl) gibt den TänzerInnen einen zusätzlich verstärkenden Rahmen. Auch wenn ihre Bewegungskunst für sich allein sprechen könnte: sowohl in der Technik und ihrer nicht nur dem Choreografen geschuldeten kreativen Nutzung als auch in der darstellerischen Umsetzung eines beziehungslosen Nebeneinander; eines, das aber auch so manches Mal zu Gemeinsamkeit, zu beeindruckenden Ensembleszenen führt, zu unaufgesetzter Synchronität; und: zu solistischen, durchaus brillanten Kurzpassagen.
„Le Sacre du printemps“
Der international mehrfach ausgezeichnete Tänzer und weltweit mit seinen Choreografien erfolgreiche George Céspedes, der auch leitender Direktor seiner eigenen Kompanie Los Hijos ist, arbeitete in Graz erstmals mit einem europäischen Ensemble.
Was er mit diesem umsetzen will, ist weit entfernt von den ursprünglichen und seither überaus zahlreichen weiteren Interpretationen dieses bahnbrechenden Balletts. Vergleichbar mit Stiens Aussagen in „Fieber“ sind auch seine Grundgedanken negativ fatalistisch, die Thematik eine existentielle und seine gestellte Frage, angelehnt an Nietzsche: ‚Was können wir jetzt noch machen?‘ Künstlerisch relevante Antworten können nur dann gefunden werden, wenn eigene Erfahrungen und damit verbundene Intentionen ihre authentische Umsetzung suchen, jede tänzerische Bewegung ihren ureigenen, tiefen Grund habe, wie er in der Veranstaltung „Vor der Premiere“ erklärte; und hinzufügte, dass dies sowohl für den Choreografen wie auch für die TänzerInnen gelte.
Entsprechend der vom Expressionismus geprägten Musik Igor Strawinskys ist die hier umgesetzte Körpersprache eine größtenteils machtvoll explosive, hochdynamische und temporeiche. Was an Kraft und Macht aber auch in der Stille, im regungslosen Verharren steckt, das wird schon nach dem Heben des Vorhanges vermittelt: durch die zwanzig in einer Reihe regungslos stehenden TänzerInnen. Langsam entsteht eine Bewegung, tritt einer, eine und ein weiterer vor, gibt Einsatz für die Musik und damit für weitere, expressive und individuelle gestische Statements der TänzerInnen. Wut, Auflehnung und Kampfeswillen um das Ureigene bricht durch, um das Ich gegen das Du, um das Individuelle gegen das Allgemeine, um das Unbekannte gegen Althergebrachtes; all das zieht sich explosiv und mitreißend durch das gesamte Geschehen.
In geschlossener Gemeinsamkeit manchmal: rennend über die Bühne, in endlos scheinender Kreisbewegung am Boden, im kollektiven Sturz auf den Boden. Zumeist aber in verschiedensten Konstellationen in Duos und Trios. Kurzzeitig kehrt kräftigende Ruhe, kehrt entspannendes Loslassen im Beugen und Durchschütteln in diesen Überlebenskampf. In einen, der sich bei aller Wiederholung und aller Aussichtslosigkeit doch in versuchsweise immer neuen, expressiven Bewegungsbildern manifestiert. Und schließlich in einen, der in einem wunderbaren, atemberaubenden Reigen individueller Solis gipfelt: Eine Explosion des auflehnenden Befreiungsschlags – wohin und mit welchem Ergebnis auch immer.
Judith Adams einfache, für alle grundsätzlich gleichen Kostüme in variierenden Erdfarben helfen bei aller Rasanz des zu Sehenden und unter dem Dirigat von Vassilis Christopoulos und Johannes Braun in ebensolcher mitreißenden Weise musikalisch Vermittelten auf den Stühlen (während der Darbietung) sitzen zu bleiben. Das gleichermaßen markant wie harmonische Lichtdesign von Martin Schwarz ist ein weiterer Faktor, der diese Präsentation zeitrelevanten Tanzpotentials bestechend abrundet.
„Sacre!, Fieber – Le Sacre du printemps, Zweiteiliger Ballettabend, Premiere am 26. Oktober 2024 Oper Graz, weitere Aufführungen am 30., 31. Oktober; 3., 9., 15., 17., 29. November; 11. Dezember 2024; 7., 8., 28. Februar 2025