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Nelken1Mit Ausflügen in die 1970er, 80er und 90er Jahre eröffnete das diesjährige Impulstanz-Festival. Und wir erlebten, wie diese “ollen Klamotten” bis heute berühren – wenn sie von der genialen Pina Bausch stammen, die mit ihrem Tanztheater grundlegende, menschliche Fragen verhandelte: in “Nelken” mit einer geradezu epischen Länge von 110 Minuten oder in “Café Müller”, das an einem Abend Boris Charmatz’ bewegten und abstrakten Körperskulpturen gegenüber stand. Ganz heutig überzeugte und begeisterte die französische Formation von Amala Dianor / Kaplan. 

In einem Feld aus Nelken interpretiert der Tänzer in Gebärdensprache den Song “The Man I Love”. Später wird er seinen Anzug gegen ein Kleidchen getauscht haben und die Nummer wiederholen. Das Solo zählt ebenso wie die Promenade des Ensembles mit dem “Jahreszeitengesten” zu den ikonischen Momenten der Pina-Bausch-Kreationen, zu den Signaturstücken in der reichen Hinterlassenschaft der Choreografin für das Wuppertaler Tanztheater und dessen zentrale Bedeutung für den Tanz und das Theater des 20. Jahrhunderts.Nelken3

Auch wenn ich mich noch gut an die Tänzer*innen der Originalversion aus dem Jahr 1982 erinnere, hat das Stück “Nelken” in der Nachfolgegeneration nichts von seiner existentiellen Dringlichkeit verloren. Den Begriff der “Gender Fluidity”, die man heute diesem Stück zuschreibt – da Männer in weiten Teilen des Stückes in Frauenkleidern agieren – war damals noch gar nicht im sozialen Bewusstsein angekommen. Die Choreografin inszenierte Szenen, die sie von den Tänzer*innen als Antworten auf ihre Fragen bekommen hat, und die sich in ihren Körpern als Zeitgefühl manifestierten, sei es in Form von Homosexualität (die damals noch nicht volllständig entkriminalisiert war), von Konflikten der Kindes- und Erwachsenenwelt bis hin zur Züchtigung, von Schikanen der Obrigkeit oder über die Rolle des Einzelnen in der Gruppe.

Nelken2Mit einfühlsamer Einsicht und mit feinem Humor sezierte Pina Bausch diese Beziehungsgeflechte als Absurditäten des Lebens. Die Zuseher*innen haben direkt Anteil, werden sie doch wiederholt von den Tänzer*innen zu Spaziergängen ins Foyer oder zu einer Umarmung eingeladen. Und in diese Theaterminiaturen sprinkelte  Bausch ihre hinreißenden choreografischen Versatzstücken, an denen man sich auch nach fast zwei Stunden nicht sattgesehen hat. Bevor ihre Stücke ab den 1990er Jahren wieder viel tänzerischer wurden, wählte sie in ihren frühen Werken wiederholt Bühnenbilder mit Bodenbelägen, die Tanz eher behinderten. In diesem Fall eben ein Feld aus Nelken. Ein großer Unterschied von Damals zum Heute ist das Rauchverbot: Rauchen gehörte bei Pina Bausch zum Leben wie zur Bühne. Nun reagiert man auf die gesellschaftliche Veränderung mit Nebelsprays, die ein Tänzer hin und wieder über die Bühne verteilt.Nelken5

In “Café Müller” aus dem Jahr 1978 sind es Stühle, die den Somnambulen im Weg sind. Hektisch versucht ein Tänzer die Hindernisse aus dem Weg der Schlafwandlerin zu räumen. Das scheppernde Geräusch der fallenden Stühle übertönt Henry Purcells Musik. Ein Art Ordner tritt auf und versucht die Begegnung zweier Somnambuler zu manipulieren, sie zu einem Kuss und einer Umarmung zu vereinen und die Frau in die Arme des Mannes zu legen. Der intime Moment ist von kurzer Dauer: Er nimmt sie zwar hoch, doch sie entgleitet seinen schlaffen Armen. Der Ordner versucht es auf Neue, bis die beiden die Bewegung selbstständig wiederholen:  Immer wieder, immer schneller, immer verzweifelter wird sie seine Umarmung suchen und aus seinen Armen zu Boden sinken. 

Club Amour / Café MüllerPina Bausch hat in diesem Stück lange selbst getanzt. Nun haben junge Tänzer*innen die Rollen in deser nostaligischen und verträumten Choreografie übernommen. Boris Charmatz hat als künstlerischer Leiter des Tanztheater Wuppertal das Stück mit drei Besetzungen einstudiert. Damit hat sich zwangsläufig der Charakter des Stückes verändert. Die Zicke, die immer im Mantel und auf High Heels trippelnd auftritt (ursprünglich verkörpert durch Meryl Tankard), gibt nun diesem Stück eine dezidiert clowneske Note, die die alptraumhaft Atmosphäre grundlegend verändert. Charmatz sieht ausgerechnet in diesem Stück eine Arbeit, die “das gesamte Tanztheater, das Publikum und ich selbst vielleicht auch irgendwann” tanzen sollten. Pina Bausch hatte diese kollektive Idee in “Kontakthof” sowohl mit Damen und Herren ab 60 als auch mit Jugendlichen realisiert Ob sich gerade die diffizile und sorgfältig getimte Choreografie in “Café Müller” dafür eignet, bleibt offen. Denn Boris Charmatz verlässt Ende Juli des Tanztheater Wuppertal (siehe auch die Buchbesprechung “Nahaufnahme Boris Charmatz"). Mueller1

Wie schwierig es ist, Bausch geniale und bahnbrechende Arbeit mit anderen künstlerischen Ansätzen zu konsolidieren, wird offensichtlich, wenn an einem Abend unter dem Titel “Club Amour” ihre und Charmatz’ Arbeit gegenüberstehen.

Contact Improvisation trifft Freikörperkultur

hersesAls der Postmodern Dance mit jahrezehntelanger Verspätung aus den USA das Interesse von europäischen Tanzschöpfer*innen weckte, begannen sich Ideen aus der Zeit des Tanzes der Zwischenkriegszeit mit den abstrakten Ideen, die zuerst von der Judson Church Bewegung in New York verhandelt wurden, zu überlappen. Während Pina Bausch als Schülerin und Tänzerin von Kurt Jooss in direkter Linie zum Ausdruckstanz zurückzuführt, manifestiert sich in Boris Charmatz’ Duo “herses” (1997) der Einfluss der Contact-Improvisation und der Freikörperkultur. (Eine Analyse über “Nacktkostüme” aus einer historischen Perspektive ist in der Wiener Tanzgeschichte vom 19. Augsut 2015 zu finden.)

Abgesehen von den historischen Strängen, die dieses Beispiel vereint, fällt auf, dass Boris Charmatz die Bewegungen der ineinader verwobenen Tanzenden entwickelt, ohne das Tempo zu verändern. Hier gibt es keinen Wechsel zwischen Beschleunigung und Verlangsamung, einzig der Sound von Stefan Fraunberger setzt mit verdichteten Clustern dynamische Akzente. Ähnlich eindimensional ist auch das Geschehen in “Aatt enen tionon”, in dem drei Performer*innen auf drei übereinander gelegten Ebenensolistisch, in T-Shirts und mit nacktem Unterkörper, agieren. Hier bringt ebenfalls die Akustik dynamische Abwechslung: durch die Soundinstallation von Hubertus Biermann und Olivier Renouf und die Körper, die hin und wieder krachend auf den Boden fallen. Diese Arbeiten sind intellektuelle Abhandlungen von Bewegungsideen, die absolut konträr zu den emotional aufgelandenen Kreationen von Pina Bausch sind. Aattenentionon

Die Gegensätzlichkeiten versuchte man in “Club Amour” auch gar nicht zu überspielen: Während bei Charmatz’ Stücken das Publikum mit den Tänzer*innen auf der Bühne saß, übersiedelte man für “Café Müller” in den Zuschauerraum und räumte so auch eine zeitliche Distanz ein.

Fast Forward to 2025

Dub1Zwischen diesen intellektuellen und psychlogisierenden Ansätzen haben ganz andere Tanzformen die Straßen, Parties und Tanzstudios in den Großstädten von Los Angeles bis Paris sowie die globale Unterhaltungsindustrie erobert. Lange Zeit hat die künstlerische zeitgenössische Tanzszene darauf eher zurückhaltend reagiert, in Wien ist der Urban Dance als Ausdruck unserer diversen Gesellschaft auf der Bühne nach wie vor weitgehend abwesend. 

Die Eröffnung des diesjährigen Impulstanzfestivals besorgte die Gruppe Amala Dianor / Kaplan mit “Level Up”, einer auch akustisch freiluftgerechten Inszenierung. Mit der Aufführung von “DUB” im Volkstheater entfaltete sich das profunde choreografische Talent des Franzosen Amala Dianor zur kongenialen Live-Musik von Awir Leon in seiner ganzen Pracht. Mit atemberaubenden, hinreißenden und stilistisch vielseitigen Tänzer*innen aus Afrika, aus der Balkanregion und aus Frankreich realisierte Dianor eine tänzerische Tour de Force mit eleganten Choreografien und klug inszenierten soziokulturellen Bilder und Szenen.Dub5

“DUB” geht ab wie eine Rakete, behandelt Genderthemen und Subkultur mit fröhlicher Selbstverständlichkeit, und erreicht seine Wirkung unmittelbar aus der Musik und dem Tanz. “DUB” oszilliert zwischen dem sicht- und spürbaren Vergnügen, den die Performer*innen beim Tanzen vermitteln und der Repräsentation von Lebenswirklichkeiten, die sich in einem einem dreigeschoßigen Haus (Bühnenbild: Grégoire Korgnow) entwickeln.

Dub3In Frankreich ist Amala Dianor längst ein choreografischer Fixstern, schön, dass er nun international reüssiert und auch in Wien präsent ist. Denn diese kraftvolle Art des zeitgenössischen Tanzes bietet einen humanitären und kraftvollen Lichtblick in unseren krisenbehaftete Zeiten ebenso wie ein Plädoyer für eine vielfältige und bunte Gesellschaft.

Tanztheater Wuppertal + Terrain Boris Charmatz: “Club Amour” am 13. Juli, “Nelken” am 19. Juli, beide im Burgtheater. Amala Dianor / kaplan: “DUB” am 16. Juli im Volkstheater im Rahmen von Impulstanz.

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