Ballet is back! Nach der Wiederaufnahme von “Giselle”, mit der die neue Chefin Alessandra Ferri das Wiener Staatsballett in neuem Glanz präsentierte, wählte sie nun für ihre erste Premiere ein Handlungsballett im traditionellen Stil. Alexei Ratmansky hat den antiken Abenteuer- und Liebesroman “Kallirhoe” für die Bühne adaptiert. Mit schmissiger Musik, einer eleganten Ausstattung und einem großartigen Ensemble erfüllte die Premiere alle Erwartungen an ein Werk dieses Genres – und beweist, dass Ferri nun aus einem unglaublichen Talentepool schöpfen kann – von den Ersten Solist*innen bis zum Corps de ballet.
Alexei Ratmansky erlangte durch seine edlen Inszenierungen der klassischen Ballettliteratur Weltgeltung. In Wien kannte man ihn bisher als Choreograf kurzer Stücke: 2021 wurde "Pictures of an exhibition", 2022 "24 Préludes" ins Repertoire aufgenommen. Und nun hatte also das Monumentalballett "Kallirhoe" – 2020 unter dem Titel “Love and Rage” vom American Ballet Theater uraufgeführt – hier seine Europa-Premiere. Die große epische Erzählung kommt wie ein Re-enactment aus Sowjetzeiten daher: Damals setzte man große epische Erzählungen wie “Spartakus” im Theater in Szene und konkurrierte so mit Cinemascope-Schinken wie “Ben Hur”, mit denen die USA den Kulturkampf des kalten Krieges dominierten. 
Auch in “Kallirhoe” geht es um die ewigen Themen Liebe, Eifersucht und Leidenschaft, um Familienfehden, Intrigen, Verrat und Versöhnung. Doch Alexei Ratmansky ist ein stilsicherer Zeitgenosse, der diese großen Emotionen inklusive Happy End dramatisch und spannend zu inszenieren weiß. Es gelingt ihm die Geschichte stringent chronologisch in der klassischen Bewegungssprache zu erzählen (Libretto: Guillaume Gallienne). Choreografisch setzt er dabei auf expressive Soli, lyrische Pas de deux und dynamische Ensembleszenen – Repetition darf durchaus sein.
Die Musik von Aram Chatschaturjan wurde von Philip Feeney für das Ballett arrangiert. Das Wiener Staatsopernorchester unter der Leitung von Paul Connelly verwandelt die Ausschnitte aus dem Ballett “Gayaneh” (ergänzt durch Einschübe aus anderen Kompositionen) in eine variationsreiche, stimmungsvolle Musikdramaturgie. Die Ausstattung von Jean-Marc Puissant setzt das Werk wirkungsvoll in den zeitlichen Kontext. Die wenigen szenischen Versatzstücke teilen die Bühne dezent in Handlungsebenen und geben der antiken Geschichte einen modernen Look.
Dass dieses Ballett insgesamt überzeugen kann, liegt freilich in erster Linie an den Tänzer*innen. Sie alle beweisen sich hier nicht nur als technisch hervorragend, sondern auch als fabelhafte Rollengestalter*innen. 
Die Titelheldin wird von Madison Young interpretiert. Nach einigen Jahren beim Bayerischen Staatsballett, wo sie bald zur Ersten Solistin aufstieg, ist sie nun wieder in Wien zurück. Sie ist eine hinreißend zarte, hingebungsvolle und duldende Kallirhoe, die das Begehren aller Männer weckt und von ihnen als Trophäe gehandelt wird. In Chaireas findet sie die wahre Liebe. Verkörpert wird dieser von Victor Caixeta, der vom Het Nationale Ballet Amsterdam nach Wien wechselte. Ganz jugendlicher Draufgänger stürmt er temperamentvoll auf die Bühne und dominiert sie mit weit ausholenden Sprüngen. Die Tändelei zwischen den beiden, begleitet von schmachtenden Blicken und sehnsuchtsvollen Gesten des Ensembles ist schön kitschig und erheiternd. Die jugendliche Liebe besänftigt sogar die Väter (Eno Peci und Lukas Gaudernak), die nun ihre Feindschaft beenden und der Verbindung ihren Segen geben.
Rivalen von Chaireas nützen die Leichtgläubigkeit von Kallirhoes naiver Magd (quirlig und fröhlich: Margarita Fernandes, die zuvor beim Beyerischen Staatsballett war) für ihre Intrige aus. Und schon inszeniert der Hitzkopf rasend vor Eifersucht einen vehementen Streit mit Kallirhoe, die daraufhin leblos zusammenbricht.
Piraten plündern das Grab, in dem die inzwischen erwachte Scheintote begraben wurde, nehmen sie mit und verkaufen sie an Dionysios, der gerade um seine verstorbene Frau trauert. In der (mittlerweile schwangeren) Kallirhoe findet er eine würdige Nachfolgerin und heiratet sie. Alessandro Frola besticht sowohl mit seinen flinken Fußarbeit als auch mit einer differenziertem Schauspiel. Auch wenn er aus Kallirhoes Situation seinen Vorteil nimmt, ist Dionysios ein sympathisch Werbender. Mit kleinen Sprüngen ist er immer ein bisschen off balance und vermittelt eine berührende Verletzlichkeit, die ihm auch Kallirhoes Zuneigung bringt.
Mit Gewalt will Mithridates Kallirhoe nehmen. Timoor Afshar tanzt diese Rolle kraftvoll und brutal, seine Macht manifestiert sich in tiefen Pliés und symmetrischen Positionen. Auch der König von Babylon will sie erobern. Dabei ist er nicht zimperlich im Umgang mit der Schönen und manipuliert sie mit absoluter Autorität. Der aus Brasilien stammende Marcelo Gomes ist seit dieser Saison leitender Ballettmeister des Wiener Staatsballetts und setzt seine Kenntnis der Paararbeit mit sparsamen Bewegungen bestimmt in Szene. Eindrucksvoll ist das allemal. An seiner Seite ist Ioanna Avraam eine edle, um Ausgleich bemühte Königin von Babylon.
Highlights des zweiaktigen Balletts sind die Szenen zwischen den rivalisierenden Männern, etwa der Dialog zwischen Chaireas und Mithridates oder der Kampf zwischen Chaireas und Dionysios zum berühmten Säbeltanz. Ratmansky inszeniert diese Konfrontation als ein spannendes Ausloten und Auflauern der feindlichen Parteien. Schließlich gewinnt Chaireas, kann Kallirhoe wieder in die Arme schließen und sie und ihren gemeinsamen Sohn nach Hause führen.
In den Nebenrollen stechen zwei Absolvent*innen der Ballettakademie der Wiener Staatsoper besonders hervor: Rosa Pierro (zuletzt Solistin am Aalto Ballett Dresden) als Dionysios’ Dienerin sowie Rinaldo Venuti (zuletzt beim Ballett des Teatro alla Scala in Mailand) als Chaireas’ Freund.
Bei all den solistischen Glanzleistungen bringt sich aber auch das Ensemble ins Blickfeld, das in den wenigen Monaten unter der Leitung von Alessandra Ferri wieder zu einem homogenen Tanzkörper wurde und in dem sich bereits der Eine oder die Andere als künftige Solist*innen bemerkbar machen.
Fazit: Die Geschichte von Kallhiroe handelt von ziemlich brutaler Gewalt an einer Frau, die von Männern entführt, verkauft, misshandlet und missbraucht wird. Als harmloses und romantisierendes Narrativ scheint diese grausame Geschichte tatsächlich aus der Zeit gefallen zu sein. 
Ratmansky versucht erst gar nicht, den Roman an heutige Zeiten anzupassen, große Emotionen sind unabdingbare Ingredienzien für sein Handlungsballett und stehen auch hier – zuweilen durchaus plakativ – im Zentrum. Doch die Umsetzung des Balletts erlaubt auch eine Lesart jenseits der Klischees. Gerade weil die Tänzer*innen nicht schablonenhaft ihre Rollen spielen, sondern sie mit Leben erfüllen. Und dafür ernteten sie zurecht Standing Ovations vom Premierenpublikum.
Wiener Staatsballett: "Kallirhoe" von Alexei Ratmansky, Premiere am 19. Oktober 2025 an der Wiener Staatsoper. Weitere Aufführungen am 22., 26., 28., 30. Oktober, 10. November, 4., 5., 7., 12. Jänner 2026
