Ihre Lebensgeschichte gleicht einem Filmdrehbuch, auch wenn sie nicht für die Darstellung des „schwarzen Schwans“ berühmt geworden ist. Wie im Film endete ihre Karriere jedoch in einer psychiatrischen Anstalt. Der Choreograf Boris Eifman, in Wien durch das Ballett „Anna Karenina“ bestens bekannt, lässt die einst berühmte Ballerina wieder auf der Bühne tanzen – in ihrer Lieblingsrolle. Sein Ballett „Giselle rouge“ ist der großen Olga Spessivtseva gewidmet. Am 12. April ist Premiere in der Volksoper.
Wenn Eifman von seiner Kindheit erzählt, dann ist zu spüren, dass sein Interesse an der Ballerina Olga Spessivtseva durch mehr gefördert wird als durch künstlerische Verehrung. Beide, der 1946 im sibirischen Rubzowsk geborene Choreograf und die 1895 in Rostow am Don zur Welt gekommene Olga Spessivtseva hatten nicht nur unter Entbehrungen und Armut zu leiden sondern auch unter den Beschränkungen der politischen Systeme.
Dass Olga nach dem frühen Tod des Vaters von der Mutter ins Internat gesteckt wurde, mag ein Glück gewesen sein. Gab es doch Verbindungen zur St. Petersburger Ballett Akademie und Olgas Tanz-Besessenheit wurde bald in die richtigen Bahnen gelenkt. Schon mit zehn Jahren fiel sie allerdings durch ihren Perfektionismus und auch durch ihre grazile Schönheit auf. Schon früh wurde sie ins Corps de Ballet des Mariinski Theaters aufgenommen und durfte 1915 ihre erste Aurora („Dornröschen“) tanzen. Sergej Diaghilev holte sie zu den „Ballets Russes“ und stellte sie in New York vor. Brav kehrte die Spessivtseva wieder zu ihrer Stammtruppe in St. Petersburg zurück und triumphierte am 30. März 1919 zum ersten Mal als „Giselle“ im gleichnamigen Ballett zur Musik von Adolphe Adam. Besonders bewundert wurde ihre Interpretation der „Wahnsinnsszene“. „Sie ist Giselle. Glaubwürdiger und mehr zu bewundern als die Pavlova oder die Karsavina“, urteilten die Kritiker nicht nur in der Heimat.
Krank vor Heimweh. Der letzte Winter des grausamen Bürgerkriegs, war eine Katastrophe, eisig kalt, im Mariinski Theater brachen Strom und Heizung zusammen, Olga erkrankte an Tuberkulose und wurde für ein halbes Jahr auf Kur in den Kaukasus geschickt. Sie war bald genesen, die schrecklichen Zeiten wurden immer schrecklicher. Es war nicht einfach, aber ihrer Hartnäckigkeit (und der Hilfe ihres Liebhabers, eines Tschekisten) gelang es, 1924 die Ausreiseerlaubnis nach Frankreich zu erhalten. Mit dem Engagement an der Paris Oper eroberte sie zwar das Publikum doch wirklich glücklich war die schwierige Künstlerin nicht. Nach drei Jahren wechselte sie wieder zu den Ballets Russes. Noch bevor sie wie versprochen „Giselle“ tanzen konnte , starb Diaghilev 1929 in Venedig. Die sensible Spessivtseva war aus der Bahn geworfen. Rettung kam von der Camargo Society, einem Londoner Ballett-Produktionsunternehmen: Die Spessivtseva tanzte „Giselle“ im Savoy Theater und stritt wie immer, mit allen und jedem. War stur, eigenwillig, vertragsbrüchig, unduldsam, doch unberührbar. Wurde verehrt und gefürchtet. Und besonders bewundert, für ihre Darstellung im 2 . Akt von Giselle. Als Willi tanzte sie wie in Trance mit fast geschlossenen Augen, ohne zu realisieren, was um sie herum geschah.
Als sie 1934 für eine vierwöchiges Engagement in Australien ankam, wog Olga Spessivtseva nur 44 Kilogramm. Sie war für „Raymonda“ engagiert und ließ sich durch die mittelalterliche Geschichte von Frauenraub und Liebe offenbar verwirren. Erinnerungen an die Zeit in der Sowjetunion, als eine ihrer Freundin bei einem Bootsunfall umkam, vielleicht ermordet worden war, kamen hoch, Olga Spessivtseva fühlte sich verfolgt, von Spionen umgeben, hörte Stimmen, die ihr drohten, die Beine zu amputieren. Aber auch die Sehnsucht nach der russischen Heimat quälte sie, an eine Rückkehr war jedoch nicht zu denken. Sie war eine „Abtrünnige“, wurde selbst verdächtigt, Spionin zu sein. Dennoch tanzte sie jeden Abend. An einem der Abende knapp vor Ende der Tournee begann die Ballerina plötzlich zu improvisieren, verlor die Orientierung, wusste weder wo sie war, noch in welchem Stück sie tanzen sie sollte. Ihr Partner, Anatole Vilzak, versuchte die Vorstellung zu retten, doch schließlich musste der Vorhang fallen. Für die Vorstellung und auch über Olga Spessivtseva, einer der höchst verehrten Ballerina des 20. Jahrhunderts. Keine ihrer Nachfolgerinnen, die sich nicht an ihrer Interpretation der Giselle orientiert hätte.
Die schlafende Ballerina.Nach dem Zusammenbruch brachte sie ihr damaliger Lebensgefährte, Leonard Brown, zurück nach Paris, wo sie nach einer Ruhepause 1935 noch einmal in der Opéra Comique auftrat. Weil der Erfolg nicht zu ihrer Zufriedenheit war, schwor sie, nie wieder zu tanzen. Nur eine Ausnahme machte sie noch 1937, als in einer Gala in Buenos auftrat. Ihre Depression wurde wieder akut als ihr Gefährt an einem Herzinfarkt starb. Sie hatte niemanden mehr, der sie unterstützte. 1942 verschwand sie in einer psychiatrischen Anstalt. 20 Jahre verbracht die Spessivtseva hinter Gittern. Ihre Beteuerungen: „Ich bin Giselle, Étoile an der Pariser Oper“, wurden als Fantasien einer Verrückten abgetan. Viele ihrer ehemaligen Kolleginnen hielten sie für gestorben. Erst 1962 gelang es einem Freundeskreis unter dem Tänzer und Choreografen Anton Dolin Olga Spessivtseva in der Tolstoi-Stiftung, einem Heim für russische Emigrantinnen unterzubringen. Die „schlafende Ballerina“ war wieder erwacht und zeigte auch ein erstaunliches Erinnerungsvermögen. Erst 1991 ist Olga Spessivtseva im Alter von 96 Jahren verstorben.
1997 hat Boris Eifman ihr mit dem Ballett „Giselle rouge“ ein Denkmal gesetzt, nicht nur weil die „Giselle“ ihre berühmteste Rolle war sondern auch weil „ihr Schicksal dem von Giselle so ähnlich ist.“ Auch dass er seinen ganzen Mut zusammennehmen musste, erzählt Eifman, um diese Hommage an eine Flüchtige noch vor der Auflösung der Sowjetunion herauszubringen. Mit Szenen aus dem Leben der sensiblen Ballerina führt der Choreograf das Publikum von der bolschewistischen Revolution und der Ermordung ihres Bruders nach Paris, von der Insel seliger Künstlerinnen zum Horror der Bespitzelung und Unterdrückung bis zur Melancholie des Exils und dem Zusammenbruch.
Olga tanzt Olga.Auch wer die Vita der berühmten Tänzerin nicht kennt, wird Eifmans klare Erzählweise verstehen und der Handlung folgen können. „15 Szenen in zwei Akten, originell und tief bewegend“ ist das allgemeine Resümee. Olga Esina wird die schwebende Verkörperung der als „körperlos“ beschriebene Ballerina sein. Diesmal muss sie sogar ihrer Vorgängerin in der Interpretation der Wahnsinnsszene im 1. Akt folgen. Andere Hauptfiguren sind nicht so deutlich definiert. Tanzpartner (Roman Lazik / Robert Gabdullin), Lehrer (Eno Peçi / Kamil Pavelka) oder ein Kommissar der Geheimpolizei (Kirill Kourlaev / Vladimir Shishov) treten neben viel Volk auf. Als Alternative für Esina probt Ketevan Papava die Rolle der roten Giselle. „Rot“ ist Giselle übrigens weil sie durch einen ihrer ersten Anbeter, einen Geheimpolizisten, in die „rote“ Welt eingeführt wurde, aber auch weil das neue Regime bald forderte, dass sich auch die weißen Ballerinen dem roten Terror unterzuordnen hätten.
„Giselle rouge“, Ballett von Boris Eifman, Musik von Peter Iljitsch Tschaikowski, Alfred Schnittke, Georges Bizet, Adolphe Adam. Premiere am 12. April 2015, Volksoper.
Reprisen: 15., 27.April, 3., 11.Mai 2015.