Tanz, Musik, Ausstattung und Subtext! Das sind en gros die Ingredienzien, mit denen Christian Spuck auf der Bühne Atmosphäre schafft. Der 48-jährige Marburger, der seit 2001 als Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts international auf sich aufmerksam machte, leitet seit 2012 das Ballett Zürich. Vor drei Jahren stellte er dort seine choreografische Auseinandersetzung mit Leo Tolstois Roman „Anna Karenina“ vor, die am 19. November Bayerischen Staatsballett als Spucks München-Debüt Premiere hatte.
Vesna Mlakar: Herr Spuck, seit 12 Jahren inszenieren Sie neben Ihrer Arbeit fürs Ballett immer wieder auch Opern. Zuletzt feierte Ihre choreografische Ausdeutung von Verdis „Messa da Requiem“ Erfolge. Was fasziniert Sie am Musiktheater?
Christian Spuck: Ich glaube, dass es bei jeglicher Form von Musiktheater – sei es Oper oder Ballett – stets um das Thema Menschsein geht. Darum, wer wir sind, was wir mit uns machen, wie – in welchen Beziehungen und Konstellationen – wir leben.
Wie setzen Sie sich als Choreograf mit Inhalten auseinander?
Mit geht es um das Warum – weniger um Ornament und Form. Geschichten, in denen das Konfliktpotenzial so gering ist, dass keine Tiefe entstehen kann, finde ich schwierig. In den großen Balletten des 19. Jahrhunderts dient Handlung oft als Folie für klassischen Tanz: schöne Arabesken, Hebefiguren und Pirouetten. Das hat seine Qualität, interessiert mich als Künstler aber nicht. Ich denke genau andersrum und möchte die Sprache des Tanzes – egal ob klassisch oder mehr zeitgenössisch – dazu benutzen, einen Stoff zu erzählen und mittels Schritten Figuren zu erklären. Einer der ersten, der das gemacht hat, war John Cranko. Obwohl ich mich eigentlich nicht in dieser Tradition sehe, bin ich dennoch damit groß geworden.
Ihre Anfänge als Tänzer machten Sie allerdings in Jan Lauwers’ Needcompany und Anne Teresa de Keersmaekers Ensemble Rosas. Doch 1995 holte sie Marcia Haydée zurück nach Stuttgart, wo sie schon an der John Cranko Schule ausgebildet worden waren.
Ja, ich hatte das Glück, noch unter Marcia und auch unter Reid Anderson zu tanzen. Es ging immer darum, etwas auf der Bühne darzustellen – nicht darum, nur schöne Schritte zu machen. Deswegen hat das Stuttgarter Ballett so etwas Besonderes. In München, wo ich eine unglaublich begabte junge Kompanie vorgefunden habe, die gerade zusammenzuwachsen beginnt, musste ich die Tänzer erst antippen, ihnen klar machen, warum sie in einem bestimmten Augenblick präsent sind, worum es dabei geht und wen sie – selbst im Corps de ballet – darstellen. Das Nachdenken darüber und damit die Auseinandersetzung mit dem Stück hat dann relativ schnell eingesetzt – und ab dem Moment macht das gemeinsame Arbeiten richtig Spaß. Ich empfinde es als etwas Schönes, dass meine Kunst als Choreograf nur durch einen anderen Künstler gezeigt werden kann – sprich, alles was ich mir ausdenke durch die Interpreten gefiltert wird.
Zürich, Moskau, Oslo, vor zwei Wochen Seoul und nun München – Ihre „Anna Karenina“ ist seit der Uraufführung 2014 rund um den Globus bei unterschiedlichen Kompanien gefragt…
…aber bei jedem Ensemble, zu dem ich hingehe, fange ich an zu ändern! Meine Assistenten finden das furchtbar, weil sie ständig umlernen müssen und nicht gleich wissen, welche Fassung sie bei welcher Kompanie einstudieren sollen.
Hatten die Änderungen Auswirkungen auf die Züricher Urversion?
Die Zürcher Premierenfassung hat mit der jetzigen Fassung, die wir tanzen, vieles nicht mehr gemein. Die Musik und das Bühnenset sind zwar gleichgeblieben, aber das Licht und die Choreografie sowie das Schauspielerische haben sich verändert. Am liebsten würde ich noch mehr ändern, denn Tanz ist eine lebendige Kunstform. Ballett und Choreografie leben nur, wenn sie von Interpreten gelebt wird. Und manche Sachen funktionieren mit bestimmten Tänzern nicht. Es wäre albern, sie aus Prinzip beizubehalten. Darum bemüht man sich, wenn ein Choreograf tot ist – aber ich bin hier und habe total Lust, den Tänzern das Gefühl zu geben, das wir etwas Kreieren, Phrasierungen neu setzen – obwohl es sich um eine Neueinstudierung handelt. Bloß keine Routine – die bedeutet immer das Ende!
Warum ist Ihre Wahl auf Tolstois „Anna Karenina“ gefallen?
Ich habe einige Ballettversionen und alle Filme, die man bekommen kann, angesehen. Und ich habe diesen aufregenden Roman gelesen, was sehr viel Zeit braucht. Nach den ersten 100 Seiten war mir klar, er ist zu komplex für ein Ballett. Die Erzählperspektiven verändern sich ständig. Das Personal ist riesengroß, und trotzdem hat es mich unglaublich berührt. Dass eine Frau, die alles hat – einen Sohn, verheiratet ist, in einer wunderbaren, perfekten Gesellschaft lebt – plötzlich aufgrund einer Emotion – durch Liebe – vollkommen aus diesem Gefüge herausgeworfen wird, fand ich faszinierend. Der Boden unter ihr tut sich auf. Sie darf zum ersten Mal Liebe erleben und ist bereit, dafür alles herzugeben – sogar den Kontakt zum eigenen Sohn. Man kriegt manchmal eine richtige Antipathie gegen diese Figur, so krasse Sachen passieren. Eine Adaption dieses ungeheuren Gesellschaftsporträts auf 14 bis 15 Szenen herunter zu brechen, war dann ein ziemlicher Kraftakt von zwei Dramaturgen gemeinsam mit mir.
Wo genau liegen ihre inhaltlichen Schwerpunkte?
Wir haben uns auf die drei Hauptpaare konzentriert: Anna, die sich aus der Institution Ehe befreien will, weil sie ihre Liebe leben möchte. Auf ihren Mann Karenin und Graf Wronski – also das Zerbrechen der Ehe. Dann sind da Dolly und Stiwa, die im ständigen Streit miteinander leben, aber die Konstitution Ehe annehmen. Und Kitty und Lewin, die über große Umwege zueinander finden. So werden drei unterschiedliche Formen von Ehe gezeigt. Land und Stadt sind ein weiteres großes Thema. Genau wie der Zug: Tolstoi war ein Gegner der Eisenbahn, überhaupt der industriellen Revolution. In der Lewin-Figur hat er sich selbst geschildert.
Und wo verorten Sie ihre Hauptfigur szenisch?
Man ahnt Russland in dieser Produktion, spürt es. Und es werden auch drei russische Lieder von Rachmaninow live auf der Bühne gesungen. Samoware oder zeittypisch schwere Gobelins fallen weg. Ich bin kein Fan von Dekorationen, die einfach nur schön sind, und mag es, mich bei der Ausstattung auf das Notwendigste zu beschränken. Wir deuten vieles nur mit Choreografie und den Kostümen an. Wichtiger als der Plüsch drum herum sind die Figuren. Deshalb spielt diese Anna Karenina in einem alten verlassenen Ballsaal. Als Erinnerung. Es werden jeweils nur kleine Elemente einbezogen, die suggerieren, wo etwas stattfindet.
Sie erzählen die Story als Rückblende. Welche Bedeutung hat die Musik?
Musik verschafft mir die Möglichkeit, das Problem etwas zu mildern, diesen sprachgewaltigen Roman tänzerisch umzusetzen. Indem man musikalisch prägnant emotionale Akzente setzt. Zum Beispiel mit Kompositionen von Rachmaninow. Die „russische Seele“ – Schwermut, Melancholie und das besondere Verständnis der damaligen Zeit – nachzuempfinden, war mir extrem wichtig. Doch Rachmaninow allein für so einen Abend zu nehmen, wäre wohl zu oberflächlich, weil er einem starken Romantizismus verfallen ist. Zufällig bin ich dann auf Witold Lutosławski gestoßen. Seine Musik hat eine ganz ähnliche Klanglichkeit, wirkt aber fast wie eine Dekonstruktion. Im großen Liebesakt zu Rachmaninows 2. Klavierkonzert kann jeder mitschwelgen. Dann bricht das Orchester auf einmal auseinander. Die Figuren bekommen eine Schärfung. Plötzlich sieht man das Drama, versteht, was die Frau durchmacht, als ihr klar wird, dass sie gerade ihren Mann betrogen, Ehe und Leben aufs Spiel gesetzt hat.
Welche Erfahrung haben Sie die letzten zwei Wochen in München gemacht?
Es gibt hier eine Kompanie, die unglaublich begabt ist. Ein wenig Luft nach oben ist noch, was das Verständnis anbetrifft, warum man etwas so oder so artikuliert und wie man eine gewisse Selbstverantwortung als Tänzer übernimmt. Denn mehr noch als Tänzer liebe ich Künstler auf der Bühne – Menschen, die sich fragen, wie sie das, worum es geht, zum Ausdruck bringen können.
Die Besprechung der Premiere beim Bayerischen Staatsballett gibt es hier.