Im dritten Teil der Interviewserie mit Prof. Martin Puttke fragen wir nach den Aufgaben der Ballettpädagogik und dem Profil des Ballettlehrers. Martin Puttke beantwortet diese Fragen anhand seiner langjährigen Erfahrungen als Lehrer im Ballettsaal, wie die Lehrjahre für ihn zu Lernjahren wurden und erklärt, was das Grundgesetz damit zu tun hat, dass im Ballett pädagogische Maßstäbe in der Regel außer Kraft sind.
Was sind die pädagogischen Aufgaben eines Ballettlehrers?
Interessanterweise geben sowohl das bundesdeutsche als auch österreichische Grundgesetz dazu einen Hinweis, der in der Regel leider erst dann Beachtung findet, wenn wieder "ein Kind in den Brunnen gefallen ist". Was im Ballett leider nicht gar so selten zu sein scheint. Warum?
Das deutsche Grundgesetz Art.5 (GG) und das österreichische Staatsgrundgesetz verweisen in etwas unterschiedlichen, aber sinngemäß ähnlichen Formulierungen auf eine besondere Situation in der Kunst hin:
Artikel 17a des österreichischen Staatsgrundgesetzes (SGG)lautet: "Das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre sind frei" und weiter "keine grundrechtliche Freiheit darf uneingeschränkt ausgeübt werden. Grundrechte besitzen von vornherein immanente Schranken. Sie sind a priori inhärent und ungeschrieben." (im deutschen GG wird in diesem Zusammenhang auf den 1. Artikel hingewiesen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar")
In der Regel verstehen sich ehemalige Tänzerinnen und Tänzer in erster Linie als Künstler, deren Recht der Weitergabe ihres Könnens und ihrer Erfahrung aus dem relevanten Artikel des GG oder SGG abgeleitet wird. So weit so gut! Sind unterrichtende Tänzerinnen und Tänzer aber in erster Linie Künstler oder Pädagogen? Und stellt sich nicht sofort die Frage aufs Neue, wenn Adressaten bzw. Empfänger nicht nur das Publikum oder lernende Erwachsene sind, die auch selbst entscheiden können was ihnen gefällt oder gut für sie ist? Sind Kinder und Jugendliche, die ihre Körper als Medium des künstlerischen Ausdrucks und tänzerischen Aktion zur "Verfügung" stellen, um Sinn und Wesen dieser Kunst zu be(er)greifen und umzusetzen, in einer vergleichbaren Position? Erfolgt im Tanzunterricht durch den notwendigen "Zugriff" auf die Physis, nicht in jedem Fall auch ein Eingriff in Psyche, Charakter und Seele, die aber eines besonderen Schutzes bedürfen ?
Dadurch sind "a priori" der Kunstpädagogik im Tanz Grenzen gesetzt, die eben "inhärent und ungeschrieben" sind. Deutsche Verfassungsrechtler formulieren eindeutig, dass es hier eine für alle Künste gleiche Grenzfestlegung nicht geben kann und verweisen damit indirekt auf die Besonderheit, die jeder künstlerischen Betätigung und damit auch Lehre innewohnt. Ein Beispiel: Darf ein Kind , dessen anatomische Voraussetzungen für diesen künstlerischen Beruf nicht der abstrakten Norm des klassischen Kanons entsprechen, körperlich und kinetisch auf "Biegen und Brechen" angepasst werden? Jeder vernünftige Pädagoge würde das vehement verneinen, aber die Praxis und meine Beobachtungen von mehr als 40 Berufsjahren, haben mich leider eines Besseren belehrt. Nicht selten stellen die aus bester Absicht künstlerisch motivierten Übergriffe auf die Physis der zukünftigen Tänzerin oder des Tänzers bereits einen Eingriff in die Integrität dar. Wobei ich weniger physische Verletzungen meine, da diese in der Regel offensichtlich sind und schnell geahndet und abgestellt werden könnten. Aber psychische Auswirkungen, künstlerische Manipulationen oder seelische Verletzungen sind ungleich schwieriger zu erfassen. Sie können die kognitiven Prozesse wesentlich nachhaltiger und das geistig-künstlerische Potential irreparabel negativ beeinflussen.
Im Sinne des deutschen GG und österreichischen SGG erfahren Artikel 5 bzw.17a für die Berufsausbildung in der Unter- und Mittelstufe eine außerordentliche Bedeutung. In diesen Altersstufen werden alle tanztechnischen Grundlagen elementar und körperlich angelegt. Die Wahrung der körperlichen, geistigen und seelischen Integrität hat obersten Rang. Gleichzeitig erhalten diese motorischen Bewegungsmuster eine besondere Bedeutung, da sie später schwer bzw. nicht mehr zu korrigieren und zu verändern sind. In der Tiefe des Bewegungsgedächtnisses fest verankert oder auf vielfältigste Weise mit anderen Elementen kombiniert, lassen sie sich nur noch schwer herausfiltern, vereinzeln oder erneuern. All das ist in der Neurokognition längst erforscht und belegt, mit bemerkenswert wenig Widerhall in der Forschung und Unterrichtspraxis im Tanz (s. dazu "The Neurocognition of Dance, Mind Movement and Motor Skills", Bläsing, Puttke, Schack by Routledge, Taylor&Francis Group London, New York)
Einer der bedeutendsten Tänzer des 20.Jahrhunderts klärte mich einst über den Zusammenhang seiner unnachahmlichen, freien Virtuosität mit der Rolle des ebenfalls weltberühmten Lehrers an der historisch wohl bedeutendsten Ballettschule der Welt überhaupt, bei dem er absolviert hatte, wie folgt auf:
"Weißt Du wo und bei wem ich meine Virtuosität gelernt habe? In meiner Kindheit in den ersten 3 (!) Jahren meiner Ausbildung an einer wenig bekannten Ballettschule, in einer nur regional bedeutenden Stadt, von einem völlig unbekannten, alten, aber sehr erfahrenen Lehrer. Jenem Lehrer habe ich alles zu verdanken!"
Und wie sieht heute die Realität aus? Nicht nur dass man die unerfahrensten Lehrerinnen und Lehrer in der Regel in der Unterstufe einsetzt, gibt es auch so gut wie keine profunde Ausbildung für dieses Fachgebiet und diese Pädagogen. Notgedrungen ist learning by doing ihre Devise und gemeinsames Lernen eint Eleven und Pädagogen manchmal mehr wie in einem "reformpädagogischen" Habitat, als in einer didaktisch und methodisch professionellen Grundlagenausbildung.
Wo sind die Hochschulen und Universitäten, die sich dieser Sorgen annehmen und eine profunde pädagogische Ausbildung im klassischen Tanz im 21. Jahrhundert anbieten, sowohl in Inhalt, Zeitdauer und Struktur obigen Bedürfnissen und Problemen angemessen? Didaktik ist mehr denn je gefragt, die durch keinen Kurs oder ein Wochenend-Weiterbildungsseminar zu Kreativität, Selbstwahrnehmungs-, Selbstfindungskonzepte oder Somatics ersetzt werden kann.
Für den aufmerksamen Beobachter der gegenwärtigen Forschungs- und Lehrlandschaft im Tanz stellt sich dieses Feld wie eine "terra incognita" dar, unter der zuallererst Kinder und Jugendliche zu leiden haben. Dieser Bildungsnotstand ist ein idealer Nährboden für selbstgestrickte Kunstpädagogik ebenso wie für Übergriffe, Fehlhaltungen oder schlicht Irrtümer ist.
Worum geht es in der Ballettausbildung heute: Um die Förderung der talentiertesten Schüler, des Top-1-Prozent? Oder um eine möglichst gute Ausbildung für die 99 Prozent, die nach strengen Kriterien ausgewählt und aufgenommen wurden, um ihnen einen weiteren Weg in der Tanzwelt (als Tänzer, Lehrer, Choreografen, Theoretiker …) zu ermöglichen?
Diese Frage treibt mich in einen Gewissenskonflikt!
Weil ich am besten darauf antworten kann, wenn ich aus meinen "Lehr(n)jahren" und meiner praktischen Arbeit im Ballettsaal mit den Schülerinnen und Schülern erzählen kann, die später die Theaterbühnen erobert haben und einige weltbekannt wurden. Aber das Problem war: fast alle waren von den anatomischen Voraussetzungen nur der mittleren oder wie in einem Fall sogar der unteren Kategorie zuzurechnen. Wie kann das sein? (Liebe Ehemalige, verzeiht mir diese Offenheit, aber ihr hattet großartige Karrieren und diese Wahrheit kann Euren Ruhm nachträglich nur noch mehren.)
Jedoch, ihre körperlichen Mängel wurden deutlich kompensiert durch entscheidende, auf den Tanz ausgerichtete Eigenschaften: besondere kinästhetische Begabung, sich frühzeitig abzeichnende Lust an eigener künstlerischer Präsenz und Präsentation auf der Bühne und eine ursprüngliche, eben nicht aufgesetzte oder "künstlich" erzeugte Hingabe zu motorisch explosiver wie höchst sensibler physischer Selbstverwirklichung.
Es stand außer Frage, dass mein frisch in Moskau in fünf Jahren Studium der Ballettpädagogik erworbenes pädagogisches know how leider für dieses "körperliche Angebot" nur begrenzt verwertbar war. Gott sei Dank bin ich von diesem hohen akademischen Ross recht schnell abgestiegen und ließ mich vor lauter Enttäuschung nicht entmutigen. Ich begann nochmal zu lernen und begab mich auf eine Entdeckungsreise - vor 45 Jahren - die selbst heute nicht beendet ist. Die eher noch an Spannung zunimmt, da ich inzwischen Partner in der Physik, Biomechanik oder Neurokognition gefunden habe. Manche Erkenntnisse offenbarten mir die Modernität uralter und vergessener Lehrpraktiken der berühmtesten Pädagogen der Ballettklassik (z.B. der Einfluss von Enrico Cecchetti auf die russische Sprungtechnik). Andere wiederum öffneten den Blick und das Verständnis für Ursachen erwiesenermaßen fehlerhafter Lehrpraktiken und ihre "Heiligsprechung" im Klassischen Tanz (z.B. der Aufbau einer natürlichen Körperachse).
Aber erst mal wieder zurück in den Ballettsaal und ein Beispiel:
Viele Jahre später, haben wir an der Staatlichen Ballettschule Berlin (unter meiner Leitung als Direktor, künstlerischer Leiter und täglich unterrichtender Ballettpädagoge) in das letzte, 8. Ausbildungsjahr meiner Jungenklasse einige Mädchen aufgenommen - an die Gründe für diesen ungewöhnlichen Schritt kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Ein sehr sensibles und tänzerisches Mädchen wurde mir von der ehemaligen Pädagogin mit dem ernsten und helfenden Rat übergeben, ich möchte es auf keinen Fall darauf aufmerksam machen, dass es für diese Ausbildung doch recht einwärts sei. Es sei ein großes Problem und sie fürchte einen nervlichen Zusammenbruch. Damit hatte ich zwei Lösungsmöglichkeiten: weiter mit einer Lüge zu unterrichten oder zu versuchen, mit physischen "Interventionen" wenigstens annähernd ein akzeptables en dehors zu erreichen! Am nächsten Tag bat ich das Mädchen am Ende der Ballettstunde zu einem Gespräch und eröffnete ihm eine dritte Variante: Liebe......., so wie du es weißt, wissen auch wir von deinem ungenügenden en dehors. Ich werde dir zeigen, wie man selbst mit diesem Makel ausgezeichnet tanzen kann. Deswegen bist du in dieser Klasse!
Kein Nervenzusammenbruch, stattdessen völlige Verblüffung und irritiertes Staunen. Wieder einige Jahre später hat diese junge Künstlerin unter meiner Leitung an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin die Giselle getanzt und wieder einige Jahre danach riss sie mit ihrer Tatjana im Ballett "Onegin" von John Cranko am Aalto Theater Essen einen berühmten Tänzer zu der Bemerkung hin: das kann sich selbst neben "der" Makarova sehen lassen! Heute, mit über 40 Jahren. tanzt sie immer noch und hat sich einen Namen im zeitgenössischen und experimentellen Tanz gemacht,
All das hat nichts mit einem Wunder oder den im Ballett so beliebten Märchen zu tun. Im Laufe meiner "Lernjahre" entdeckte ich ein motorisches Regulativ, welches das Verhältnis zwischen Klassischem Tanz und Modernem Tanz aus einer nicht antagonistischen, sondern anthropologischen Perspektive neu definiert: ein "kinetischer Algorithmus" erscheint als Basis (bzw. kybernetisches motorisches Steuerungsverfahren) sowohl für die Alltagsbewegung des Menschen als auch für jede künstlerische Tanztechnik und Gestaltung. (s. dazu Puttke "Motion Analysis as Pedagogic Tool in Dance" in "Handbook of Human Motion", Springer International Publishing 2018, Herausgeber B.Müller, S.Wolf )
Das war die Basis für die Erfolge des oben angesprochenen Schülerkreises und im Laufe der letzten Jahre als Methode grundlegend konzeptualisiert für Ausbildung und die Arbeit mit fertigen Tänzerinnen und Tänzern am Theater.
Erinnerst Du Dich an das 11-jährige Mädchen, welches sich im klassischen Ballett als Prinzessin sieht und beim modernen Tanz denkt: ich bin ich! Es gibt eine Lösung für diesen Widerspruch!
Fortsetzung folgt.
Die Interviews dieser Serie werden per e-mail geführt.
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