Am 23. Juni 2017 feiert das Wiener Community-Dance-Programm Tanz die Toleranz (TdT) mit vier Choreografien und 150 TänzerInnen seinen 10. Geburtstag im Ankersaal der Brotfabrik im 10. Wiener Gemeindebezirk. Damit kommt der Tanz mit einem dezidiert politischem Engagement, wie ihn Olga Suschitzky und ihre Töchter Karla und Ruth in der Zwischenkriegszeit propagiert haben, nach beinahe hundert Jahren wieder nach Favoriten zurück.
„Community Dance“ ist hierzulande das Stiefkind des Bühnentanzes. Im "Kulturland Österreich" stellt sich üblicherweise nicht die Frage nach der sozialen Verantwortung von Künstlern. Das ist in Großbritannien und den USA anders. Dort wird generell von Kunstschaffenden ein soziokultureller Beitrag eingefordert.
Während in der zeitgenössischen Tanzszene sehr viel über politische Inhalte debattiert wird, werden gleichzeitig die Community-Dance-Interventionen kaum wahrgenommen. Dabei sind gerade sie durch ihre unmittelbare gesellschaftliche Verankerung hochpolitisch. Die sich derart engagierenden Künstler wollen mit den Mitteln der Kunst auch das Zusammenleben unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen verbessern und leisten inklusive und generationenübergreifende kulturelle Bildungsarbeit. Ganz praktisch und ziemlich effektiv.
In der Regel sind soziokulturelle Interventionen meistens (einmalige) Pilotprojekte. Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo mit Organisationen nicht nur eine Vernetzungsstruktur, sondern auch eine einflussreiche Lobby (etwa mit der Foundation for Community Dance „People Dancing“ in Großbritannien) existiert, bewegen sich Künstler hierzulande auf einsamen Posten.
„Tanz die Toleranz“, eine Kulturinitiative der Caritas Wien, ist da eine große Ausnahme, ist sie doch eine der wenigen nachhaltigen Community-Dance-Einrichtungen und damit ziemlich einzigartig in (Kontinental-)Europa. Das Initialprojekt fand 2007 im Rahmen der Wiener Festwocheneröffnung statt und brachte 250 TeilnehmerInnen zu einer Choreographie von Royston Maldoom, der das Programm als künstlerischer Berater seither begleitet, auf die Bühne. Seither konnten mehr als 9.000 Menschen aktiv über Projekte erreicht werden.
Brunnenpassage und andere Partner
Kooperationen mit kulturellen Organisationen in ganz Österreich nennt die künstlerische Leiterin Monica Delgadillo als eine Programmpriorität von Tanz die Toleranz. Seit Eröffnung der Brunnenpassage am Wiener Brunnenmarkt bildet Tanz dort das umfangreichste Programmangebot – sei es in den wöchentlich stattfindenden Kursen oder beim beliebten „Saturdance“, eine Art Schnupperstunde in unterschiedlichste Tanzrichtungen.
Mittlerweile hat sich auch die ehemalige Anker-Brotfabrik als Location für die Community-Dance-Aktivitäten etabliert. Zum 10-jährigen Jubiläumsevent gibt es etwa eine Kooperation mit dem ebenfalls auf dem Gelände verorteten Atelier 10, dessen Künstler das "Bühnenbild" gestalten werden. Die Liste der Institutionen, mit denen das Tanzprogramm der Caritas Wien zusammenarbeitet, wächst ständig. Neben den Erwähnten gab es eine Zusammenarbeit mit dem Tanzquartier Wien im Rahmen von gelegentlichen Saturdance-Workshops. Heuer fand das Projekt „Lernen Macht Schule - Musik Buddy“ in Kooperation mit der WU, die Integrative Lernwerkstatt mit einer Ganztagsschule in Brigittenau, das Projekt „BewegungsBegegnung“ für Menschen mit und ohne Behinderung in Laa an der Thaya (NÖ) oder Tanzworkshops im Flüchtlingslager Traiskirchen statt. Darüberhinaus werden sporadisch Workshops im öffentlichen Raum wie etwa im Museumsquartier veranstaltet. In Kooperation mit tanz.at finden die monatlichen Ballettstunde für Erwachsene "Ballett plusminus 60" statt.
Im Zentrum stehen die Aufführungen
TdT verfolgt in den seinen Kursen eine Arbeitsmethode, an deren Ende (fast) immer eine Aufführung steht, bei denen die TeilnehmerInnen ihr kreatives und künstlerisches Potenzial entfalten können. Die Auseinandersetzung mit Choreographie, Bewegung in Zeit und Raum, dient als Instrument für persönliches Empowerment und soziale Inklusion. Das Ziel ist, einen Rahmen zu gestalten, in dem die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, Interaktion, gegenseitige Unterstützung und Mitwirkungsmöglichkeiten gefördert werden.
„Die Aufführungen am Ende von jedem Semester sind die Höhepunkte“, erklärt Claire Blaschke, die seit einem Jahr TdT managt. Nicht nur sehe man dadurch das Ergebnis der Arbeitsprozesse, sie sind auch „gut für das Team“. Die Tänzerin findet dabei die Community-Dance-Methodik besonders spannend, bei der eine Produktion ganz anders als in einer professionellen Compagnie abläuft. „Monica (Delgadillo, Anm.) hat eine klare Idee davon, was wir sein sollen. Gleichzeitig betreut sie die KünstlerInnen auch sehr gut, und unterstützt sie in ihrer Entwicklung. Es ist wie beim Choreografieren. Man ist nicht einfach totaler Experte, man muss lernen.“
Die ChoreografInnen werden bei bei TdT mit ihrer künstlerischen Arbeit nicht alleine gelassen, sondern erhalten ein Training beziehungsweise ein Coaching. Delgadillo ist am Anfang und Ende des Probenprozesses dabei und gibt Feedback. „Die ChoreografInnen müssen super sein, damit die Teilnehmer dabei bleiben. Nicht, dass der Leiter der Grund ist, dass sie nicht mehr kommen. Das geht gar nicht“, sagt sie.
Denn die künstlerische Qualität ist in der Arbeit mit Laien mindestens ebenso wichtig wie in der Profi-Szene. Die Tatsache, dass keine professionellen Tänzer auf der Bühne stehen, bedeute keinesfalls, dass das Ergebnis dilettantisch sein dürfe. Delgadillo hat mit den KollegInnen Romy Blok, Alessandra Tirendi, Juliett Zuza oder Sayed Labib, Ottilia Gaurean und Viviana Escalé einen fixen künstlerische Mitarbeiterstab, zu dem projektbezogen immer wieder neue KünstlerInnen dazu kommen. Gerade arbeitet etwa Katharina Senk an dem Projekt „MOVing_futures“ in Maria Enzersdorf, ab September wird Eva-Maria Schaller das „Tanzprojekt für Alle“ im Festspielhaus St. Pölten leiten, das seit 2013 in Zusammenarbeit mit TdT angeboten wird.
Künstler, die sich für die Mitarbeit bei Tanz die Toleranz interessieren, werden im ersten Schritt eingeladen einen „Saturdance“ zu leiten. „In diesen sehr heterogenen Gruppen sind pädagogische Skills besonders wichtig. Wenn das klappt, werden ChoreografInnen mit bestimmten Projekten betreut.“ Andererseits lädt Delgadillo KünstlerInnen aufgrund persönlicher Kontakte zur Mitarbeit ein. Eine gute Technik sei aber immer eine Voraussetzung – und natürlich auch die Art zu kommunizieren.
Die Jubiläumsfeier
Da die finanziellen Mittel für die Jubiläumsaufführung nicht wie erhofft zur Anmietung eines Theaters reichten, wird im Ankersaal der Brotfabrik gefeiert. Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden den choreografischen „Spuren“ von Monica Delgadillo, Romy Blok, Alessandra Tirendi und Juliett Zuza nachgehen.
Ein größeres Projekt ist für das 11. Jahr geplant: 2018 soll es ein internationales Treffen geben, bei dem Choreografinnen ein bis zwei Wochen mit Gruppen arbeiten und die Ergebnisse zu einer Aufführung bringen werden. Diese Treffen im Rahmen eines informellen, internationalen Netzwerkes unter der Leitung von Royston Maldoom und Tamara McLorg fördern den intensiven Erfahrungsaustausch unter KollegInnen und bringen den KünstlerInnen neuen Inputs.
Bei der Vielfalt der TeilnehmerInnen agiert das TdT-Team schließlich auch als einer der wichtigsten Tanzvermittler in Österreich, der den „Tanz dorthin bringt, wo man ihn nicht erwartet“. Einerseits. Andererseits wünschen sich Monica Delgadillo und Claire Blaschke für die nächste TdT-Dekade einen eigenen Raum, um auch die professionelle Tanzszene besser in ihren Aktivitäten einbinden zu können und zeitgenössischen Tanz einem breiteren Publikum präsentieren zu können.
Ironischerweise existiert dafür bereits ein fertiges Konzept von Maldoom und McLorg, die 2013 von der Caritas Wien eingeladen worden waren, um ein Education und Community-Dance-Zentrum in der Ankerbrotfabrik aufzubauen mit eigenen Räume inklusive Programmplanung. Die Umsetzung würde Wien zur Drehscheibe der partizipativen Tanzpraxis in Europa machen. Abgesehen davon, würde ein derartiges Zentrum die einstigen Bemühungen der Suschitzky-Frauen in die Gegenwart führen. Warum diese Initiative es, wie so viele andere in Wien, nicht über das Pilotprojekt hinaus geschafft hat, ist Thema einer anderen Geschichte – demnächst auf tanz.at …
Tanz die Toleranz feiert 10 Jahre am Freitag den 23. Juni 2017 um 20.00 Uhr im Ankersaal, Absbergasse 27, 1100 Wien. Der Eintritt zu dieser Veranstaltung ist kostenlos. Im Sinne einer Umverteilung wird eine freiwillige Spende von 9 Euro vorgeschlagen. Einlass 19:45
Weitere Artikel zum Thema Community Dance und Tanz die Toleranz auf tanz.at:
Monica Delgadillo setzt auf Qualität bei Tanz die Toleranz
Tanz die Toleranz wird 10
Kunstvermittlung boomt: Anything Goes?
5 Jahre Tanz die Toleranz
Tanz die Toleranz: Ballett plusminus 60