Zwei „Dornröschen“ und zweimal „Jolanthe und der Nussknacker“ stehen heuer auf Österreichs Bühnen auf dem Programm. In beiden Produktionen, an unterschiedlichen Standorten (in Linz und in Wien) zeichnet Andrey Kaydanovskiy als Choreograf verantwortlich. Ein spannendes Jahr für den ehemaligen Tänzer des Wiener Staatsballett, der sich ab jetzt ganz der Tanzkreation widmen wird.
Und so eröffnet er auch den Premierenreigen mit seinen Kolleg*innen des Wiener Staatsballetts mit Tschaikowskys „Jolanthe und der Nussknacker“ an der Volksoper. Für die Uraufführung 1892 als Doppelabend kreiert, werden die Oper „Jolanthe“ und das Ballett „Der Nussknacker“ heute nur noch selten gemeinsam aufgeführt. Zusammen mit Musikdirektor Omer Meir Wellber werden die beiden Werke an der Volksoper zu einer Geschichte über das Erwachsen-Werden ineinander verwoben. Die neue Chefin Lotte de Beer zeichnet für die Inszenierung verantwortlich. (Premiere am 9. Oktober)
Am Salzburger Landestheater fügen Ballettchef Reginaldo Oliveira mit Regisseur Peter Mica und unter der musikalischen Leitung von Leslie Suganandarajah die beiden Teile zu einer neuen Erzählung aneinander, behalten aber die Unabhängigkeit der beiden Teile im Titel bei: „Jolanthe / Der Nussknacker“ hat dort am 15. April 2023 Premiere.
Zweimal gibt es in dieser Saison auch das 1890 in St. Petersburg in der Choreografie von Marius Petipa uraufgeführte Ballett „Dornröschen“ neu. Für den Wiener Ballettchef Martin Schläpfer stellen sich in diesem Märchen viele Fragen: „Wie ist – trotz aller Helligkeit – die tiefere Beziehung Auroras zu ihren Eltern, dem König und der Königin, die für mich ganz klar Hauptrollen sind, die nicht nur repräsentieren, sondern viel zu tanzen haben werden? Könnten die Feen elfenhafter sein, aus einer anderen Welt als der der Menschen entstammen? Ist Carabosse wirklich böse oder eher eine missverstandene Frau, tiefgründig, vielschichtig, weise, eine Figur, in die man auch Schönheit und Wärme legen könnte? Und eine zentrale Frage: Was bedeutet der immense Zeitsprung von 100 Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Akt – für die Handlung, die Figuren, den Tanz?“ Seine Antworten wird er am 24. Oktober in der Wiener Staatsoper vorstellen.
„Mit viel Humor, der an Absurdität grenzt“ nähert sich Andrey Kaydanovskiy dem Prozess des Erwachsenwerdens in einer Art Kammerspiel. Er entwirft ein Gesellschaftspanorama, das von Hedonismus geprägt wird. Als Aurora nach einem Sturz aus ihrem tiefen Schlaf erwacht, gelingt ihr die Emanzipation von den Eltern. Diese Version von „Dornröschen“ kommt am 23. Dezember im Musiktheater Linz zur Uraufführung.
Darüber hinaus bieten die Theater sehr unterschiedliche Programme.
Dass im Jahrbuch von „tanz. Die Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance“ das Wiener Staatsballett zum „Glanzlicht der Saison“ gekürt hat, sollte Ballettchef Martin Schläpfer neuen Auftrieb geben. Tatsächlich hat er in den zwei Jahren seiner Amtszeit das Profil der Compagnie stark verändert. So bemerkenswert diese Veränderung ist – auch weil Corona wiederholt einen Strich durch seine Planung machte –, so umstritten ist sie beim Wiener Publikum. Nachdem Schläpfer dem Wiener Staatsballett seinen Stempel mit einer Reihe von Kreationen und Einstudierungen seiner Werke aufgedrückt hat, realisiert er in dieser Saison lediglich ein Werk, allerdings ein Monumentales, nämlich das oben angeführte „Dornröschen“. Darüberhinaus verfolgt der Ballettchef seine Strategie möglichst viele choreografische Handschriften in das Wiener Repertoire zu integrieren.
Die zweite Premiere an der Wiener Staatsoper „Goldberg Variationen“ vereint an einem Abend die Choreografie der Musik von Johann Sebastian Bach von Heinz Spoerli mit Ohad Naharins „Tabula Rasa“ zur gleichnamigen Komposition von Arvo Pärt. (16. April) In der Volksoper wird das Wiener Staatsballett außer dem eingangs erwähnten Stück „Jolanthe und der Nussknacker“ (Kaydanovskiy / de Beer) den für die Saison 2020/21 geplanten und pandemiebedingt verschobenen Abend „Promethean Fire“ nun endlich am 11. Februar mit Arbeiten von Paul Taylor und Mark Morris zur Aufführung bringen. Als weitere Premiere gibt es dort am 18. Dezember auch die „Plattform Choreografie“, auf der Tänzer*innen ihre Kreationen präsentieren werden.
Das Wiener Staatsballett greift natürlich auch auf Repertoirewerke mit einer Reihe von Schläpfers Werken. Diese sind an der Staatsoper: „Die Jahreszeiten“ (Schläpfer), „Im Siebten Himmel“ (Schläpfer / Goecke / Balanchine), „Liebeslieder“ (Robbins / Childs / Balanchine),und die Wiederaufnahmen von Ashtons „La Fille Mal Gardée“ (ab 13. Dezember) und „Don Quixote“ in der Version von Rudolf Nurejew als Saisonabschluss am 28. Juni. In der Volksoper stehen „Ein deutsches Requiem“ (Schläpfer) und „Begegnungen“ (Ratmansky / Kaydanovskiy / Schläpfer) wieder auf dem Spielplan. Am 15. September eröffnet das Wiener Staatsballett die neue Saison mit „Kontrapunkte“ (de Keersmaeker / Cunningham / van Manen) in der Volksoper, am 20. September mit „Onegin“ (Kritik von der Wiederaufnahme im Dezember 2021) in der Staatsoper.
Linz: Neuer Wind
Im letzten Jahr sprang die Dramaturgin Roma Janus als interimistische Leiterin ein. Der Vertrag mit ihrer Vorgängerin Mei Hong Lin war nach schweren Vorwürfen der Tänzer*innen gegen sie vorzeitig beendet worden. Bereits im April setzte Janus mit Chris Harings Version von „Schwanensee“ starke eigene Akzente (tanz.at berichtete).
Nun ist Janus offiziell als Ballettdirektorin bestätigt worden und setzt ihren begonnen Weg fort. Neben „Dornröschen“ von Andrey Kaydanovskiy im Dezember kommt am 8. Oktober „Neuzeit“ des Berliner Chorografen Johannes Wieland auf die Bühne des Großen Saals im Musiktheater. In der Black Box wird das Ensemble Tanz Linz in „Traumzeit“ mit eigenen Choreografien den Mythen einer raum- und zeitlosen Welt nachgehen (Premier am 11. Juni). Bei allen Kreationen übernimmt die neue Ballettchefin die Dramaturgie.
Innsbruck: Der Abschied wird schwer.
Bereits die Nicht-Verlängerung seines Vertrages als Tanzdirektor durch das Leitungsteams am Tiroler Landestheater ab 2023/24 löste heftige Proteste aus, denn Enrique Gasa Valga hat sich in den letzten 13 Jahren in die Herzen der Innsbrucker choreografiert. Nun legt er in seiner letzten Saison am Haus noch einmal ein spannendes Programm auf.
Am 23. Oktober bringt er eine getanzte Version des Romans „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald aus dem Jahr 1925 heraus, in dem er das gesellschaftliche Umfeld der „Roaring Twenties“ wieder aufleben lässt. Eine weitere Choreografie von Gasa Valga kommt am 4. März im Rahmen des hochkarätigen Dreiteilers „Rhythm!“ zur Aufführung, zusammen mit „Gnawa“, einem der Meisterwerke von Nacho Duoato, und Alexander Ekmans „Cacti“. (Es war übrigens bereits 2015 beim Wiener Staatsballett zu sehen.)
In den Kammerspielen kommt am 18. Dezember „Maledetto Modigliani“ in der Choreografie von Lara Brandi zur Uraufführung. Nach einem Libretto, das sie zusammen mit dem Ballettchef entwickelt, entsteht ein Portrait des Künstlers Amedeo Clemente Modigliani (1884–1920).
Salzburg im Zeichen von Lichtgestalten
Am Salzburger Landestheater ist man in der Saison 2022/23 „Lichtgestalten“ auf der Spur. Die spartenübergreifende Produktion in der Felsenreitschule unter der Regie von Intendant Carl Philip von Maldeghem bringt am 29. Oktober erneut das gesamte künstlerische Team zusammen. In „Entstehung des Lichts. Vom Urknall zur Zukunftsvision“ treffen sich die Sparten Schauspiel, Oper und Ballett. Das Schauspiel nimmt das Publikum auf eine Reise in das Leben des Priesters und Urvaters der Genetik und des Weltumseglers Charles Darwin in „Charles Darwin: Galapagos“. Der Ballettchef Reginaldo Oliveira zeichnet nach Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ nach. Die musikalische Leitung übernimmt Gabriel Venzago. Das Saisonthema wird auch von Flavio Salamanca und Brice Asnar in „Vom Lichten und Dunklen“ im Probenzentrum Aigen verfolgt (5. Mai).
Neben der bereits erwähnte Produktion von „Jolanthe / Der Nussknacker“ (Oliveira / Mica) werden Josef Vesely und Kate Watson „Der Regenbogenfisch“ von Marcus Pfister für ein junges Publikum tänzerisch umsetzten. (12. Jänner)
Auch die traditionelle Internationale Ballettgala am 18. Februar steht heuer wieder unter der Gesamtleitung von Reginaldo Oliveira und seinem Vorgänger, dem langjährigen Salzburger Ballettchef Peter Breuer.
Graz: Große Gefühle
Im Opernhaus Graz präsentiert Intendantin Nora Schmid ihr achtes und damit letztes Jahresprogramm an diesem Haus, bevor sie in der nächsten Saison die Leitung der Semperoper Dresden übernimmt. Sie eröffnet es mit einem „Musik gewordenen Appell für Frieden“: Benjamin Brittens „War Requiem“. Ballettdirektorin Beate Vollack lässt zum Auftakt Jo Strømgrens Ballett „Zum Sterben zu schön“ bewegte Kreise ziehen; Kreise um den Tod als Teil der Kunst, als immerwährenden Teil des Lebens
Die vier Neuproduktionen, die Vollack programmiert hat, zeigen neben ihrer künstlerischen Vielfalt insbesondere große Gefühle und viel Berührendes. Der Bogen, der sie inhaltlich umspanne, entspreche dem Titel der auf der Studiobühne am 13. Oktober 2022 die Tanzsaison eröffnenden Produktion: „Zum Sterben zu schön“ – dies werde neben den divergierenden tänzerischen Elementen rund um künstlerische, durch Krankheit und Tod erwirkte Phänomene – entsprechend dem Denken der Romantik zu Musik von Franz Schubert, über Robert Schumann, Frédéric Chopin und anderen zu erleben sein.
Eine mutige und kraftvolle Frauenfigur wird in Beate Vollacks neuester Choreografie auf der Hauptbühne zur Musik von George Bizet u.a. im Zentrum stehen: „Carmen“, eine allseits wohl Bekannte also – oder doch nicht? Vollack stellt sich jedenfalls der Herausforderung, das Unbekannte, die Hintergründe zu dieser Figur, zu diesem Inbegriff des Freigeists, zu ergründen. Losgelöst vom tradierten Ort und seiner Zeit wird ein „alter Ego“ Josés wie in Prosper Merimées Erzählung durch das tragische Geschehen führen. Begleitet von vertrauten wie aber auch neuen Klängen. Premiere der Ballettproduktion ist am 11. Februar 2023.
Im Doppelabend „Der Tod und das Mädchen“ wird von Beate Vollack und Sascha Pieper nicht nur choreographisch in zweierlei Art rund um das Thema Tod gestaltet; auch musikalisch wird das Publikum mit unterschiedlichen Perspektiven konfrontiert: mit der von Franz Schubert in seinem titelgebenden, bekannten Streichquartett und jener des Schweizer Komponisten und Dirigenten David Philip Hefti, der die Musik eigens für diese Produktion komponiert. Für Vollack bedeutet das ihren kreativen Prozess, der mit üblicherweise mit der Musik beginnt, umzudrehen: Ihre Tänzer*innen setzen sich weitgehend jugendlich unbeschwert und ohne Wissen um die Musik mit dem noch weit entfernten Thema des Todes auseinander. Sehr im Kontrast daher zu dem, was Sascha Pieper zu Schuberts Musik gestaltet: zur direkten Konfrontation mit dem Tod, zur Auflehnung gegen diesen. Zu erleben ab 24.Mai.
Die als „Short little greats“ betitelte Premiere am 14.Juni basiert auf der Beobachtung von oft Unbeachtetem: Tänzer*innen setzen nicht nur vom Choreografen Vorgegebenes als Bewegung und Rolle um; sie sind als KünstlerInnen immer auch Mitgestaltende und Inspirierende, also auch eine Art Co-Choreograf. Die Möglichkeit, dieses choreografische Potential auch explizit zu erproben, bietet Vollack ihren TänzerInnen nun in diesem Programm, bei dem diese die für ihre KollegInnen erarbeiteten Tanzminiaturen präsentieren.
Die weitergeführte Reihe „ABC des Tanzes“ gibt Interessierten wieder neue Einblicke in den Ballettalltag und Informationen zu vielerlei, was zur Entstehung und Umsetzung von Tanzproduktionen von Bedeutung ist. (Autorin: Eveline Koberg)