Nun, eines dürfte klar sein: Die Ära Martin Schläpfer geht mit dieser Spielzeit beim Wiener Staatsballett nachhaltig zu Ende. Nicht nur, dass die neue Chefin Alessandra Ferri keine seiner Choreografien im Repertoire behält – sie trennt sich auch von vielen Tänzer*innen, die Schläpfer in den fünf Jahren seines Wirkens nach Wien gebracht hat.
“Schönheit, Eleganz und Glanz” sind Eigenschaften, die die neue Ballettchefin der Stadt Wien – “one of the most beautiful city in the world” – zuschreibt. Sie sollen unter ihrer Führung auch das Wiener Staatsballett, “one of the leading companies in the world”, bestimmen. Dafür macht Ferri aber keinen radikalen Bruch mit dem Vorangegangenen, sondern beginnt mit einer behutsamen Änderung der Repertoirepolitik.
Interessanterweise hat sie sich für ihre erste Saison nicht so sehr auf die großen Werke der klassischen Literatur konzentriert, auch wenn die Saison am 18. September mit einer Aufführung von Elena Tschernischovas “Giselle” eröffnet wird. Doch der Fokus liegt auf einer “season of masters” mit Werken von Giganten der Ballettgeschichte des 20. Jahrhunderts und zeitgenössischen Handschriften.
Premieren und Repertoire 2025/26
Der Premiererneigen beginnt am 19. Oktober an der Wiener Staatsoper mit einer Kreation von Alexej Ratmansky. “Kallirhoe” ist der Name des erotischen Romans von Chariton aus dem antiken Griechenland, den der Choreograf zur Musik von Chatchaturian inszeniert hat.
Die zweite Premiere im Haus am Ring, “Visionary Dances” (Premiere am 9. Mai), vereint drei Tanzkünstler, die das klassische Ballett erweitert und in neue Richtungen geführt haben. Justin Peck ist Resident Choreographer beim New York City Ballet und wird für seine energiegeladenen, narrativen Werke international gefeiert. In “Heatwave” verbindet er in Zusammenarbeit mit dem Künstler Shepard Fairey (Bühnenbild) klassisches Ballett mit urbaner Streetart.
Wayne McGregor interessiert sich besonders für die Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technology. Der britische Choreograf beim Royal Ballet hat sich beim Wiener Staatsballett bereits mit seinem Werk „Eden | Eden“ einen hervorragenden Eindruck gemacht. McGregor verbindet eine lange Zusammenarbeit mit Alessandra Ferri und es bleibt zu hoffen, dass dies nicht sein einziger Auftrag für das Wiener Staatsballett bleiben wird. Für diesen Abend wird er “Yugen” einstudieren. Inspiriert von Leonard Bernsteins “Chichester Psalms”, arbeitete McGregor mit dem Keramiker Edmund de Waal zusammen. Das Ergebnis ist ein Werk von puristischer, aber ausdrucksstarke Ästhetik. Die beiden Stücke treffen an diesem Abend auf Twyla Tharps ikonisches “In the Upper Room” – ein Werk, das 1986 Grenzen sprengte und die moderne und klassische Welt verband.
An der Volksoper feiert am 20. Dezember Thierry Malandains “Marie Antoinette” Premiere. Der französische Choreograf Thierry Malandain ließ sich von der faszinierenden Persönlichkeit der tragischen Königin aus dem Hause Habsburg inspirieren und schuf ein Ballett, das 2019 mit seinem Ensemble, dem Malandain Ballet Biarritz, an einem besonderen Ort uraufgeführt wurde: An der Opéra Royal Château de Versailles, die Marie Antoinette am 16. Mai 1770 anlässlich ihrer Hochzeit mit Ludwig XVI. einweihte. Im Zentrum des Balletts steht das Leben der Königin in Versailles, begleitet von Musik ihrer Zeitgenossen Joseph Haydn und Christoph Willibald Gluck.
Am 9. Mai kommt der Vierteiler “American Signatures” zur Premiere. Auf dem Programm stehen “Interplay” von Jerome Robbins zur gleichnamigen Musik von Morton Gould und “Dispatch Duet” der New Yorker Choreografin Pam Tanowitz zur Musik von Ted Hearne. Lar Lubovitch ist einer der populärsten und vielseitigsten Choreografen in Amerika und bringt nun das Duo “Each In Their Own Time”, das unter dem Eindruck der Covid-Pandemie für zwei Solisten des New York City Ballet entstand, nach Wien. Dritter im Bunde ist der Pianist, der die Musik von Johannes Brahms auf der Bühne spielen wird. Jessica Lang, Hauschoreografin des Pacific Northwest Ballet, entwickelt in “Let Me Mingle Tears With Thee“ eine visuell-choreografische Auseinandersetzung mit Giovanni Battista Pergolesis Vertonung von “Stabat mater”.
Wieder aufgenommen werden in der Staatsoper Roland Petits “Die Fledermaus”, Kenneth MacMillans “Manon” und George Balanchines “Jewels”. In der Volksoper darf man sich wieder auf das bezaubernde Ballett “Peter Pan” von Vesna Orlic freuen. Das “Kaiserrequiem” von Andreas Heise bleibt auf dem Spielplan.
Alessandra Ferri behält zwar die Idee eine Abschlussgala bei, wird sie aber nicht mehr auf den bisher namensgebenden Rudolf Nurjew beziehen, sondern jedes Jahr einem anderen Choreografen widmen. Eine gute Idee, war doch bereits in den letzten Jahren der Bezug zum Ballettstar nicht mehr nachvollziehbar. Die Ballett-Gala am 29. Juni 2026 ist eine Hommage an Sir Frederick Ashton und wird dessen Choreografien mit Werken von Christopher Wheeldon und George Balanchine kombinieren.
Ein neues Team
Mit Alessandra Ferri, die als eine der wenigen Tänzer*innen den Titel Primaballerina Assoluta tragen darf, kommt auch ein hochkarätiges Team nach Wien. Mit dem Brasilianer Marcelo Gomes und Pino Alosa aus Italien hat die neue Direktorin Ballettmeister an ihrer Seite, die als langjährige Tänzer – Gomes war etwa 10 Jahre lang Principal Dancer am American Ballet Theater – nicht nur die Regeln des Ballettsaals, sondern als Ko-Direktoren an der Semperoper (Gomes) und der Compañia Nacional de Danza (Alosa) auch Führungserfahrung mitbringen.
Patrick Armand, der seit 2012 im Führungsteam und seit 2017 als Direktor der San Francisco Ballet School erfolgreich tätig war, wird die Leitung der Ballettakademie der Wiener Staatsoper übernehmen. Der Franzose tanzte beim London Festival Ballet (heute English National Ballet) und beim Boston Ballet. Seit 2002 widmet er sich vorwiegend der Pädagogik. Er war wiederholt Jurymitglied und Coach beim Prix de Lausanne, ein Wettbewerb, der in der Biografie der meisten neuen Ersten Solist*innen einen bedeutenden Platz einnimmt. Übrigens gewann Armand, ebenso wie Alessandra Ferri den Prix de Lausanne im Jahr 1980. (Erst im letzten Jahr erhielt Ferri außerdem den Prix de Lausanne Lifetime Achievment Award).
Nach wie vor bedeutet ein Preis bei der renommierte Schweizer Leistungsschau eine wertvolle Eintrittskarte in die Tänzerkarriere.
Zum Beispiel bei der 26-jährigen Laura Fernandez-Gromova. Die Schweizerin mit ukrainischen und spanischen Wurzeln, war zuletzt Solotänzerin am Staatsballett von Georgien. Ihr erstes Engagement nach ihrer Ausbildung an der Tanzakademie Zürich und an der Waganowa-Ballettakademie in St. Petersburg, erhielt sie am Mariinsky-Theater. Danach war sie, bis zum Überfall der Ukraine durch Russland, erste Solistin am Stanislavsky-Theater in Moskau.
Oder beim 26-jährigen Brasilianer Victor Caixeta, der sein Ballettstudium mit 12 in einem Sozialprojekt namens Pé de Moleque begann. Er gewann Stipendien beim Youth American Grand Prix und beim Prix de Lausanne und schloss seine Ballettausbildung an der Staatliche Ballettschule Berlin ab. Nach zwei Jahren beim Mariinsky Ballett wurde er zum Solisten ernannt. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 wechselte er zusammen mit Olga Smimova zum Het Nationale Ballet in Amsterdam, wo er im selben Jahr zum Ersten Solisten avancierte.
Auch bei Madison Young, die unter Manuel Legris zur Solotänzerin beim Wiener Staatsballett avancierte, und danach als Erste Solistin ins Bayerische Nationalballett wechselte, wo sie 2021 zur Ersten Solistin wurde, ein Rang, in dem sie nun an das Wiener Staatsballett zurück kommt. Mit ihr übersiedelt auch der gebürtige Portugiese António Casalinho von München nach Wien.
Keine Rolle spielt der Prix Lausanne in den Vitae des Italieners Alessandro Frola, der bisher beim Hamburg Ballett engagiert war oder bei Kentaro Mitsumora aus Japan, der zurzeit noch beim Royal Swedish Ballet tanzt.
Das Ende der aktuellen Saison
Die Tänzer*innen, die mit Ende der Saison das Wiener Staatsballett verlassen sind die Ersten Solist*innen Hyo-Jung Kang, Claudia Schoch, Marcos Menha, Alexey Popov, Brendan Saye, die Solist*innen Sonia Dvorak, Alice Firenze und Alexandra Liaschenko sowie 17 weitere Mitglieder. Sie sind bis dahin noch in “Pathétique”, “Mahler, Live” und “Dornröschen” an der Wiener Staatsoper sowie in der letzten Premiere der Direktion Martin Schläpfer an der Volksoper zu sehen: “Kreationen” von Alessandra Corti, Louis Stiens und Martin Chaix erleben am 14. Juni ihre Uraufführung.