18 Tage nach der Uraufführung des Stückes „… como el musguito en la piedra, ay si, si, si…“ („… wie ein kleines Stück Moos auf dem Stein …“) starb Pina Bausch völlig unerwartet. Das in Zusammenarbeit mit dem chilenischen Festival Santiago a Mil entstandene Stück nimmt daher wohl einen besonderen Stellenwert im Oeuvre der genialen deutschen Choreografin ein. Nun war es erstmals in Österreich im Festspielhaus St. Pölten zu sehen. Anlass für einen Tribut – statt einer Kritik.
Nichts an diesem Stück lässt vermuten, dass es von einem todkranken Menschen geschaffen wurde. Es ist sogar eines der hellsten und leichtesten Werke von Pina Bausch. Dass die Diagnose Lungenkrebs erst fünf Tage vor ihrem Tod gestellt wurde, verwundert angesichts ihres Lebensmodus nicht wirklich. Pina Bausch „opferte“ sich für jede ihrer Kreationen auf. Kaffee und Zigaretten, wenig Schlaf – die Tänzerin Joe Ann Andicott hat die Besessenheit der Pina Bausch in ihrem Buch „Warten auf Pina“ sehr einfühlsam beschrieben.
„Es ist überhaupt kein Vergnügen, ein Stück zu machen. Jedes Mal ist es eine Qual. Warum tue ich mir das immer wieder an?“, fragte die Choreografin denn auch in einer ihrer Reden. Die Antwort liegt wohl darin, dass der Schaffensprozess für sie eine (Überlebens-)Notwendigkeit war. Immerhin umfasst ihr Oeuvre über 40 Werke.
Es geht um das Leben
Für sie "geht nicht um Kunst, auch nicht um bloßes Können. Es geht um das Leben, und darum, für das Leben eine Sprache zu finden.“ Daher gab sie ihren Tänzern auch eine Stimme, sie konnten sprechen, singen, schreien, winseln, betteln, heulen, grölen, schluchzen und alle Facetten des menschlichen Psychogramms mit allen Mitteln ausdrücken. Denn Pina Bausch interessierte sich bekanntlich nicht für das Wie, sondern für das Was, denn: „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt.“ (Das Zitat war auch auf der Sonderbriefmarke, die die Deutsche Post anlässlich ihres 75. Geburtstages herausbrachte, zu lesen.)
Ein Gesamtkunstwerk
Ich habe Pina Bausch zu meiner Zeit als Tanzstudentin in London erstmals erlebt. Der Eindruck war unbeschreiblich, überwältigend. Das war es, was wir im Tanz suchten. Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Lebensnähe, Eleganz, Schönheit und Humor. Keiner kam dem so nahe wie Pina Bausch, und keiner konnte Menschen so unmittelbar berühren wie sie.
Dass Pina Bausch nicht nur die Tanzwelt umkrempelte, sondern auch Schauspiel-Regisseure sich von ihr inspirieren ließen, ist hinlänglich bekannt. Die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Europa seit den 1970er Jahren ist ohne sie jedenfalls nicht denkbar. Dabei wurde der Fokus, den Pina Bausch auf die Gefühlsebene legte, von ihren Epigonen mitunter als ein Freibrief für formale Beliebigkeit verstanden. Doch die humanitäre Haltung und Aussage im Werk von Pina Bausch stand immer auf einer Ebene mit dem ästhetischen Anspruch. Ihre Werke waren Gesamtkunstwerke. Es ging ihr auch darum, ihre Tänzer und Tänzerinnen im besten Licht zu präsentieren. Wo sonst sind die Frauen und Männer so elegant und attraktiv wie bei der Bausch? Schönheit ist eine feste Größe in ihrem Schaffen.
Auch in ihrem letzten Stück hat Marion Cito die Frauen in bunte, aparte Abendroben und die Herren in dunkle Anzüge gesteckt. Peter Pabst hat sich bei seinem Bühnenbild von der kahlen Atacama-Wüste und dem erdbebengeprüften Chile inspirieren lassen. Es beschränkt sich auf einen Bühnenboden, bei dem die Bodenplatten verschoben werden und sich zwischen ihnen immer wieder Risse auftun.
Mit einem einzigartigen Sensorium ausgestattet, stöberte Bausch Szenen im Alltag auf, die sie mit einer raffinierten Collage-Technik zu einem Bühnenstück zusammenfügte. In ihren „Städte- und Länderportraits“ nahmen sie und ihre Tänzer Eindrücke auf, die in das Stück einflossen. (In Wien entstand 1994 in einer Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen „Ein Trauerspiel“.) Auch in ihrem chilenischen Stück hat sie neben der Musik – der Titel entstammt einem Lied der chilenischen Sängerin Violeta Para – ganz spezifische gesellschaftliche Verhaltensweisen aufgegriffen, etwa den Mann, der die schönen Frauen, eine nach der anderen mit überschwänglichen Komplimenten eindeckt. Freilich, ein Touristenführer wurde daraus nie, doch die Chilenen im Publikum haben sich in dem Stück klar erkannt.
„Tanzt, sonst sind wir verloren“
Ab den 1990er Jahren wurden die getanzten Passagen wieder zur wichtigsten Komponente ihrer Stücke. Das klassische Ballett ist zwar Grundlage des Compagnie-Trainings, doch in ihren Tänzen hat sie es weit hinter sich gelassen. Von der Körpermitte ausgehend setzt sich die Bewegung spiralig im Körper fort und baut sich zu einem einzigartigen Schwung auf, in dem die Arme und Beine spezifische Akzente setzen. In „… como el musguito en la piedra, ay si, si, si…“ zeigt (fast) jede der wunderbaren Tänzerpersönlichkeiten ein Solo, wobei sie Gemütszustände von unbändiger Ausgelassenheit bis zur introvertierten Melancholie ausdrücken.
Die Unsicherheit, die der plötzliche Tod von Pina in der Compagnie hervorgerufen hat, scheint überwunden. Lutz Förster, der 34 Jahre mit ihr gearbeitet hat, ist seit 2013 künstlerischer Leiter des Ensembles. Er kann für dessen Fortbestand nicht nur auf seine alten Kollegen zählen, sondern hat auch schon neue Tänzer dazu engagiert. In St. Pölten war von der ersten Tänzergeneration Dominique Mercy dabei, von den 17 Tänzern waren zwei "Neue", die sich eine Rolle teilten. Der Übergang ist also sanft, organisch und behutsam. Hand in Hand mit der Pflege des Bausch-Repertoires hat die Compagnie in dieser Saison erstmals andere Choreografen eingeladen mit ihr zu arbeiten: Theo Clinkard, Cecilia Bengolea und François Chaignaud sowie Tim Etchells hatten die Ehre. Der Tourneekalender ist ausgebucht – das Tanztheater Wuppertal ist nach wie vor ein Publikumsmagnet, vor allem natürlich an seinem Stammhaus in Wuppertal, wo die Vorstellungen schon Monate im Voraus ausgebucht sind. Brigitte Fürle, Künstlerische Leiterin im Festspielhaus St. Pölten, hat drei Jahre hartnäckig daran gearbeitet, die Gruppe ans Haus zu bekommen.
All dies mag dazu beitragen, dass das Erbe der Pina Bausch mit einer Frische getanzt wird, als stände die Choreografin noch selbst in den Kulissen. Das ist nicht selbstverständlich bei einer Compagnie, die von einer derart individuellen choreografischen Sprache geprägt ist. Der Vergleich mit dem Alvin Ailey American Dance Theater drängt sich geradezu auf. Auch dort hat man die wunderbaren Choreografien des Gründers nach dessen Tod 1989 so sorgfältig gepflegt, dass sie heute noch aktuell wirken. Das Tanztheater Wuppertal ist auf dem richtigen Weg, diesem Beispiel zu folgen. Auch bei seinem Gastspiel in St. Pölten legte es dafür mit seiner berührenden Unmittelbarkeit ein eindrucksvolles Zeugnis ab.
Tanztheater Wuppertal: „… como el musguito en la piedra, ay si, si, si…“ von Pina Bausch am 23. Oktober 2015 im Festspielhaus St. Pölten