Am 28. April 2022 endete die Intendanz Nacho Duatos beim Staatsballett Berlin. Wie das? Hat Duato das Ensemble und die Stadt, die er angeblich ihrer – im Vergleich zu St. Petersburg – relativen Nähe zu Spanien wegen schätzte, nicht längst verlassen? Hat er! Und nicht allein: Als er 2018 nach vier Spielzeiten vorzeitig Platz machte für seine Nachfolger Johannes Öhmann und Sasha Waltz (die dann nur für ein Intermezzo blieben und selbst schon wieder Geschichte sind) verschwanden auch Duatos Choreographien aus dem Repertoire des Staatsballetts. Restlos.
Duatos Name findet sich seither nur noch in der Historie des Ensembles. Aber erst jetzt endete seine Intendanz tatsächlich? Nicht nur das! Sie endete auch durch und durch erfreulich (und zwar, rätselhaft genug, dank Balanchines „Jewels“), obwohl die Intendanz Duatos insgesamt als eine durch und durch enttäuschende in die junge Geschichte des Staatsballetts eingegangen ist.
Zu spät für Berlin
Wer es vor zehn Jahren nicht voraussehen konnte oder wollte, weiß inzwischen aus Erfahrung, dass Nacho Duato die falsche Wahl für Berlin war. Zumal für die zehner Jahre des 21. Jahrhunderts. Ein Vierteljahrhundert zuvor war er ein interessanter Choreograph und hätte in den Neunzigern des 20. Jahrhunderts, als er beinahe Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin geworden wäre, wohl Aufsehen erregen, vielleicht eine Ära begründen können in der frisch vereinigten Stadt, die über Nacht Heimat von drei künstlerisch selbständigen, ästhetisch konkurrierenden Tanzensembles geworden war, deren jedes auf der Suche nach eigenständigem Profil war (und die dann 2004 im Staatsballett Berlin aufgingen).
Als er dann doch noch nach Berlin kam, 2014, hatte er nicht als Choreograph und kaum als Direktor das zu bieten, was dem Staatsballett Berlin den notwendigen Entwicklungsschritt nach der zehnjährigen Gründungsintendanz Vladimir Malakhovs hätte bescheren können und müssen. Dass Duato interessante Aufgaben für die Herren des Ensembles im Gepäck hatte, die (sofern sie nicht Vladimir Malakhov hießen) eher nicht im Zentrum des tanzästhetischen Interesses Malakhovs gestanden hatten; dass Gentian Doda als Duatos erster Ballettmeister den Tänzerinnen und Tänzern einen stilistischen Frischekick zu verpassen vermochte; oder dass Duato es verstand, vor einem großen Premierenpublikum dem Regierenden Bürgermeister und Kultursenator von Berlin selbstbewusst, elegant und formvollendet (und durchaus nicht ohne Berechtigung) die tanzpersonalpolitischen Leviten zu lesen – das alles zählte am Ende wenig bis nichts gegenüber den künstlerischen Enttäuschungen, für die Duatos Name in Berlin stand und steht.
Vier Jahre lang war ihm das größte klassische Ensemble Deutschlands vor allem Nachspielstätte für Werke, die er anderswo geschaffen hatte: Was Duato neu nach Berlin brachte, war meist schon alt, und was er hier Neues schuf, fiel in Zahl und Qualität bescheiden aus. Schlimmer: Auf Berlins Bühnen wurde offenbar, dass die Zeit über Duatos moderne Tanzästhetik schon ein gutes Stück weit hinweggegangen war.
Entschlackt, aktualisiert, aber ohne Esprit
Wie grundfalsch die Wahl Duatos für das Staatsballett Berlin war, erwies sich jedoch an nichts deutlicher als daran, wie hier zu Staub zerstob, was er sich am St. Petersburger Michailowsky-Theater erworben und wohl nicht unwesentlich zu seiner Berufung nach Berlin beigetragen hatte: Sein Ruf als ein ernstzunehmender Neuerer von Balletttraditionen. Duato brachte von der Newa an die Spree seine „entschlackten“ und „aktualisierten“ Fassungen von „Dornröschen“ und „Der Nussknacker“ mit. Doch was am kleineren St. Petersburger Opernhaus, in Nachbarschaft zu den Preziosen des Mariinsky und den Modernitätsbehauptungen Boris Eifmans, Eindruck und Sinn gemacht haben mag – in Berlin fiel lediglich auf, wie sehr es Duatos Klassiker-Fassungen an Esprit mangelte und an jenem Quäntchen genialer Eingebung, das es braucht, um durch das Abstreifen und Überschreiben der Tradition aus guten alten Repertoirewerken bezwingende neue Interpretationen hervorgehen zu lassen.
Nacho Duato wird also Berliner Episode bleiben. Keines seiner eigenen Werke aus den Jahren in der deutschen Hauptstadt, an das man sich mit Phantomschmerzen erinnert. Allein das Wald-Bild seines „Dornröschens“ sähe ich gerne wieder. Freilich: Wegen der hinreißend schönen Ausstattung (dieses Bildes) von Angelina Atlagic. Damit aber – mit dem Namen einer Ausstatterin – ist der Bogen geschlagen zum tatsächlichen Ende der Berliner Intendanz Duatos im Jahr 2022: Denn zwei Werke anderer Choreographen, die Duato dem Repertoire beifügte, standen jetzt letztmals auf dem Programm, im Februar Victor Ullates „Don Quixote“ und im April Balanchines „Jewels“. Mit ihnen haben sich die letzten Überbleibsel der Duato-Jahre in die Annalen des Staatsballetts verabschiedet. Und namentlich die „Jewels“ werden insbesondere ihrer herausragenden Ausstattung wegen lange in guter Erinnerung bleiben.
Ullates „Don Quixote“ in Berlin: Eine gelungene Inszenierung mit hohem Unterhaltungswert, einem hinreißend romantisch inszenierten und von Roberta Guidi di Bagno wundervoll dekorierten Traumbild und überhaupt mit ganz eigenen Meriten, indem sie Petipas spanisch kolorierte Klassik um tatsächlich spanische Tänze und Musik erweitert. Die Behauptung des Programmheftes allerdings, dieser „Don Quixote“ gehöre zu „den“ schönsten in der Geschichte des Werkes, halte ich für törichten Humbug – schon angesichts der über 150-jährigen Geschichte des Werkes und seiner Popularität in aller Welt, die bis heute Hunderte, wenn nicht mehr Produktionen hervorgebracht haben dürfte (oder verfügt beim Staatsballett Berlin jemand über die Fähigkeit zu Reisen durch Zeit und Raum?).
Alleinstellungsmerkmal Ausstattung
Der „Schönste“-Superlativ gebührt indes vorbehaltlos der Fassung der „Jewels“, die Duato für Berlin erwarb. Dabei ist, um im Bild edler Steine zu bleiben, „Fassung“ durchaus wörtlich zu nehmen. Weit und breit war in jüngeren Jahren keine frischere, jugendlichere, luzidere Produktion des Geniestreichs von 1967 zu sehen: Dank der Berliner Ausstattung.
Dem spanischen Innenarchitekten Pepe Leal (Bühne), seinem Landsmann und Modeschöpfer Lorenzo Caprile (Kostüme) und Perry Silvey (Licht), Technischer Direktor des New York City Ballet, gelang 2016 ein besonderes Kunststück. Ihre „Fassung“ der „Jewels“ wirkt geradezu spartanisch: Die Krönchen der Damen kleiner als in Barbara Karinskas Original, die Kostüm-Oberteile beider Geschlechter wie die Röckchen der Damen zurückhaltender mit Applikationen und Als-ob-Edelsteinen besetzt und dadurch von leichterer Anmutung, der Bühnenraum weniger aufwändig ausgestaltet als in Peter Harveys New Yorker Vorbild – und doch nicht weniger edel und effektvoll und schlicht: schön.
Durch eigene Materialien (etwa samtgleiche Verkleidungen der Gassen) und Versatzstücke (etwa dunkelrot glühende Leuchtstäbe in „Rubies“) setzt die Berliner Ausstattung besondere Akzente und gibt der Produktion einen unverkennbar eigenen Look – einen Look von Frische, Jugendlichkeit und Klarheit – und ist ein Hingucker erster Güte: Grandios ausgeleuchtet, begeistert sie das Auge jeweils beim Öffnen des Vorhangs für die „Emeralds“ und „Rubies“ und „Diamonds“, nimmt sich dann in einem sanften Wechsel des Lichts dezent zurück und wird zu einem geschmackvoll glänzenden Rahmen und Hintergrund, in und vor dem die Kostbarkeiten der Choreographie in den Vordergrund treten und die Hauptrolle übernehmen.
Aus der Vielzahl europäischer „Jewels“-Produktionen der jüngeren Zeit herauszustechen: Das will etwas heißen! Nahezu überall – ob in Hamburg, Dresden oder München, ob in Amsterdam, Kopenhagen, London, Mailand, St. Petersburg oder Wien – sind Karinskas ikonische Kostüme zu sehen, oft auch Peter Harveys Bühnenbilder. Nur hier und da wagen europäische Ensembles, vom New Yorker Muster abzuweichen – und dann meist durch dezente Rücknahmen im Bühnenbild, wenn nicht gar den Verzicht darauf. Die wenigsten jedoch wagen, dem schwelgerischen Vorbild der New Yorker „Jewels“ eine ebenso große, aber eigene Ausstattung entgegenzusetzen – und haben damit mehr oder weniger Fortüne: Paris eindeutig „mehr“ mit Christian Lacroix‘ Gesamtausstattung, London deutlich „weniger“ mit Jean-Marc Puissants‘ schon nach wenigen Jahren merkwürdig gealtertem Bühnenbild – und ganz zu schweigen von den „Faust aufs Auge“-Eigenschaften der „Jewels“-Bühne Alyona Pikalovas für das Bolshoi. Aus einem solch erlauchten Kreis von Mitbewerbern um die schönste „eigene“ „Jewels“-Produktion als Erster hervorgegangen zu sein: Für mich das bemerkenswerteste künstlerische Ereignis der Berliner Intendanz Nacho Duatos.
Der Kosmos choreographischer Edelsteine und Erfindungen, die George Balanchine in den Stoff seiner „Jewels“ einwebte; seine atemberaubende Technik, historische Reminiszenzen mit einem im Großen wie im Detail durch und durch modernen Entwurf zu verschmelzen; das tanzästhetische Lebensthema Balanchines, das in „Jewels“ geradezu die DNA des Werkes bildet; gar der angedeutete Handlungs-Faden, der sich durch das vermeintlich abstrakte Werk zieht: In diesem Text kein Wort dazu! Unbedingt aber zu den Tänzerinnen und Tänzern der Berliner „Jewels“.
Unmöglich ist es, aus den Besetzungen über sechs Repertoire-Jahre hinweg auch nur ansatzweise so etwas wie einen repräsentativen Querschnitt namentlich zu nennen: So viele makellose Aufführungen, bis in die letzten Positionen hinein sauber geprobt und gepflegt, selbst in den schlimmsten der von hektischen Umbesetzungen geprägten Corona-Monate, so viele solistische Leistungen von hohem, nicht wenige von Weltklasserang! Deshalb sollen hier nur zwei Namen für alle stehen, nämlich die von Iana Salenko, der formidablen langjährigen Ersten Solistin des Ensembles, und von Konstantin Lorenz, der 2005 die Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin abschloss und nach Stationen in Düsseldorf (bei Youri Vámos), Zürich (Heinz Spoerli) und Toulouse 2014, zu Duatos Einstand, nach Berlin kam und seither Mitglied des Corps de ballet ist.
Unwahrscheinliches Solistenpaar
Salenko schon „zuhause“ in ihrem Part, Lorenz als Debütant, zusammengebracht durch Corona geschuldete Umstände – so bildeten sie in einer Aufführung Ende Januar 2022 das unwahrscheinliche Solistenpaar des „Diamonds“-Pas de deux, dem überragenden Höhepunkt der „Jewels“. Dabei gelang Lorenz, mit schöner Linie begabt und von „prinzlicher“ Statur, eine höchst respektable Leistung, wenn auch mit zurückgenommener Raffinesse und Brillanz in den technischen Details der Soli (die indes nicht die Essenz dieses Parts sind). Was aber diesen „Diamonds“-Pas de deux in der unverhofften Paarung Salenko/Lorenz zu etwas Besonderem machte, ist anderer Natur.
Wer wusste, dass Konstantin Lorenz eingesprungen war und die großen Solopartien nicht zu seinem Alltag gehören, meinte seinem forschen Blick ins Publikum, mit dem er aus der ersten Gasse vorne rechts auftrat, ein wenig Verwunderung über den Moment und durchaus Respekt ansehen zu können für das, was vor ihm lag: Ein Männerpart wie oft bei Balanchine, der im Schatten des Parts der Ballerina zu stehen scheint, aber keinesfalls frei von Klippen und schon gar nicht nebensächlich ist. Denn „Sie“ wäre an dieser Stelle des Werkes zwar kein Nichts, aber kaum mehr als ein hübsches Ding – wäre da nicht der männliche Partner, durch den die so zart versteckte und für die Sehenden im Publikum zugleich so offensichtliche „Handlung“ dieses Pas de deux erst Ereignis, sichtbar, „rund“ und überhaupt erst verständlich wird. Diesen Inhalt zu zeigen, erfordert nicht nur Beherrschung des Schrittmaterials, sondern auch feines Ausdrucksvermögen – auch und gerade des männlichen Solisten.
Angesichts dieser Herausforderung ereignete sich zwischen Salenko und Lorenz etwas Berührendes über das in Balanchines Choreographie Angelegte hinaus: Ein wenig öfter, als es ihre Rolle in diesem Pas de deux gebietet, wirkte Salenko zu- statt abgewandt, wirkte in hinreißender Weise geradezu mütterlich, schien mit Augen und Kopfhaltung, auch mit einem Lächeln, „Ihn“ zu ermuntern und zu bestärken. Man sah eine Tänzerin und einen Tänzer, die dem choreographischen Text gerecht wurden – aber auch eine Kollegin und einen Kollegen, die aufeinander achteten, sie ein wenig mehr auf ihn als umgekehrt, um gemeinsam glänzen zu können.
So wurde die einander zugewandte Schlusspose, in der sich mit einem Blick und einem Handkuss die „Handlung“ des Pas de deux aus Werbung, Sich-Hingezogen-Fühlen, Zweifel und Annäherung erfüllt, zugleich zum Ausdruck des Respekts und des Danks der Ausführenden füreinander. Ein völlig unerwarteter Subtext zu Balanchines Choreographie – und welch ein schöner Moment! Abgerundet durch Salenkos Kniefall vor Lorenz beim Schlussapplaus des Publikums. Vollendet durch weiteren Applaus, der durch den geschlossenen Vorhang ans Ohr drang und, so denkt man, der Applaus des Ensembles für die Retter der Show gewesen sein muss, deren berührender Auftritt, so hofft man, mehr und zutreffenderes über die innere Verfasstheit des Staatsballetts Berlin sagen mag als so manche Schlagzeile aus jüngerer Zeit.
Post Scriptum
Offiziell standen Balanchines „Jewels“ am 28. April 2022 nur „zum letzten Mal in dieser Spielzeit“ auf dem Programm, wie auch schon im Februar Ullates „Don Quixote“. Zweierlei spricht indes dafür, dass dies Abschiede für immer waren: In der Spielzeit 2022-23 kommen weder „Don Quixote“ noch die „Jewels“ wieder – und die Zeit danach liegt noch im Dunkeln und dann in der Obhut des kommenden Neuen an der Spitze des Staatsballetts Berlin, Christian Spuck. Andererseits: Jeder kluge Ballettdirektor weiß, dass ein klassisches Ensemble hin und wieder den einen oder anderen Balanchine braucht. Berlin hätte da schon ‘was in petto!