Nun ist das Geheimnis also gelüftet: Staatsopern-Direktor Bogdan Roščić und Volksopern-Direktorin Lotte de Beer stellten auf einer Pressekonferenz die neue Leitung des Wiener Staatsballetts vor: Die Wahl fiel auf Alessandra Ferri und damit auf eine Tänzerin, die ihre Karriere in schwindelnde Höhen führte. In Wien übernimmt sie erstmals eine leitende Funktion an einem Haus. Soweit eröffnen sich Parallelen zu Manuel Legris, dem vielleicht erfolgreichsten Ballettchef des Wiener Staatsballetts, der hier ebenfalls erstmals eine Compagnie leitete. Doch ist Wien wirklich ein guter Platz für „learning on the job“?
Alessandra Ferri ist mutig. Mutig, weil sie sich kopfüber in ein Abenteuer stürzt, bei dem sie ab der Saison 2025/26 nicht nur eine der größten Ballettcompagnien führen soll, sondern diese auch noch an zwei unterschiedlich ausgerichteten Opernhäusern (der Staatsoper und der Volksoper) tätig ist. Das ist an sich schon eine logistische Challenge. Zu ihrer Aufgaben gehört darüber hinaus die Leitung der Ballettakademie.
Als Ballettchefin ist sie zudem mit der Herausforderung konfrontiert, das klassische Erbe zu wahren, das als Auftrag gesetzlich festgeschrieben ist, und dieses mit der Gegenwart zu verbinden, einer Gegenwart, die zu definieren gar nicht so einfach ist. „Wayne McGregor“, sagt sie auf die Frage, was für sie das Ballett 2023 bedeutet. Nicht die schlechteste Antwort. Noch im März dieses Jahres stand sie in dessen „Woolf Works“ auf der Bühne des Royal Oper House in London. Dort startete Ferri nach ihrer Ausbildung an der Scuola del Teatro della Scala in Mailand und an der Royal Ballet School im Alter von 17 Jahren ihre Karriere und wurde zwei Jahre später Principal Dancer. Sie arbeitete mit Royal Ballet Gründerin Ninette de Valois und Frederick Ashton zusammen. Kenneth MacMillan kreierte Stücke für sie.
Michail Baryshnikov engagierte die 22-jährige an das American Ballet Theater, wo sie bis 2007 alle großen Rollen der klassischen Ballettliteratur sowie Stücke von namhaften Choreografen von Jerome Robbins bis William Forsythe tanzte. Besonders eng wurde die Zusammenarbeit mit Roland Petit. 1992 wurde ihr als ständiger Gast der Mailänder Scala als zweiter Italienerin nach Pierina Legnani (1863-1930) der Titel Primaballerina Assoluta verliehen.
Die Tänzerbiografie der neuen Ballettchefin weist neben zahlreichen Auszeichnungen, darunter zwei Lawrence Olivier-Awards, Gastspiele an quasi allen großen Häusern auf. In Wien trat sie lediglich bei der Ballettgala 1991 auf. Doch die Tatsache, dass sie die Wiener Compagnie kaum aus eigener Erfahrung kennt, wertet die heute 60-jährige als Pluspunkt. Das erlaube ihr einen frischen Blick auf das Ensemble.
„Begeisterung“ attestieren die beiden Wiener Operndirektor*innen der neuen Ballettchefin, „Leidenschaft“ sieht Ferri als ihre vorrangige Qualifikation für den Job. Sie wird als Direktorin viel Zeit im Studio mit den Tänzer*innen verbringen und bringt hier auch einen reichen Erfahrungsschatz als Trainingsleiterin mit.
Natürlich kann man von der designierten Ballettchefin zur Zeit noch keine konkreten Angaben erwarten, aber man merkt doch, dass Ferri auf keine Erfahrungen als Ballettdirektor zurückgreifen kann (sieht man vom Festival von Spoleto ab, für das sie das Ballettprogramm von 2007 bis 2013 leitete, ab). Bogdan Roščić griff bei der Pressekonferenz gelegentlich unterstützend ein und erklärte Ferris Erklärungsnotstand.
Und da wären wir wieder beim Thema. Als Ballettdirektor machte Manuel Legris das Wiener Staatsballett zu einer strahlenden Compagnie, die einen Vergleich mit Paris oder London nicht zu scheuen brauchte. Dass ihm das gelang, lag auch, oder vielleicht vor allem, an der der tatkräftigen Unterstützung des Staatsoperndirektors Dominique Meyer, dem das Ballett eine Herzensangelegenheit war.
Diese Leuchtkraft hat das Ensemble in den letzten Jahren verloren. Roščić hat die Dimension des Wiener Staatsballetts bei der Bestellung von Martin Schläpfer offenbar falsch eingeschätzt. Da kam zusammen, was nicht zusammen passte. Nun hat er dessen Nachfolge zwar in Abstimmung mit Lotte de Beer, aber doch ziemlich eigenständig (und zumindest ohne Findungskommission) durchgeführt. 40 Bewerbungen gab es nach einer öffentlichen Ausschreibung. Einige Kandidat*innen wurden persönlich angesprochen, darunter auch Alessandra Ferri.
Auf die Frage nach seiner Haltung zum Ballett antwortet Roščić pragmatisch, dass er beide Sparten – Ballett und Oper – als gleichwertig ansehe, auch wenn sich die Wiener Staatsoper in erster Linie über die Oper definiere. Und hier liegt der Unterschied: Dominique Meyer ist es gelungen, die Wiener Staatsoper sowohl über die Oper als auch über das Ballett zu definieren.
Mit Alessandra Ferri steht dem Wiener Staatsballett zweifelsohne wieder eine glänzende Persönlichkeit aus der Ballettwelt vor, die in diesem Sinne wirken könnte. Es bleibt ihr also zu wünschen, dass sie mit ihrem Charme, ihrer Leidenschaft und ihrem Engagement auch das Herz des Staatsopern-Direktors für das Ballett gewinnen kann.