Welche Lernziele werden durch Ritual, Tanz und Theater weitergegeben? Inwieweit ist Ritual Performance und performative Praxis ein Ritual? Die Herausgeberinnen, die Theaterwissenschaftlerin Hanna Waldorf und die Ethnologin Karin Polit vereinen in diesem Band unterschiedlichste Ansätze, um den Zusammenhang zwischen diesen Fragen zu verhandeln. Das Ergebnis ist ein spannender interdisziplinärer Diskurs über ein brandaktuelles Thema auf Grundlage historischer Fallbeispiele.
Das Buch folgt auf eine interdisziplinären Tagung im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg, die 2012 die beiden Diskursstränge „performatives Lernen“ und „sinnliche Wahrnehmung im Ritual“ miteinander verflochten hat. Daran anknüpfend gehen die Autorinnen der Frage nach, wie „rituelle und / oder performative Praxis, Körpergedächtnis und Lernprozesse zusammenhängen“.
Im Rahmen liturgischer Tänze, so argumentiert Mona Alina Kirsch, werden theologische Inhalte vermittelt. Sie nimmt Bezug auf rituelle Tänze aus dem Mittelalter. Doch bekanntermaßen war „die Einstellung der Kirche zum Tanz … von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet“. Steht auf der einen Seite die Kritik an der Ausübung von Tanz bis hin zur Verdammung als Teufelszeug, so ist andererseits „eine Spiritualisierung des Tanzes zu beobachten … als Symbol für Gottesnähe, Ewigkeit und harmonische Reinheit.“ Dafür steht der himmlische Reigen der Engel, die einer strengen Hierarchie folgend, um den göttlichen Thron tanzen. In diesem Fall werden theologische und liturgische Inhalte über die bildliche Darstellung gelernt.
Karin Polit hat rituelle Performanzen im nordindischen Garhwal Himalaya untersucht, bei denen traditionellerweise das Erlernen der Bewegungsabfolgen nicht durch Training, sondern durch eine kinästhetisch-mimetischen Prozess erfolgt. In diesem Ritual zählt nicht die „Zurschaustellung des eigenen Körpers“. Vielmehr wird der Körper des Mediums im Ritual zum „Instrument der Beziehung mit dem Göttlichen“. Der Tanz trägt in derartigen religiösen Riten zum Verständnis der eigenen Person bei, wird Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Das Ritual ist „so auch Teil einer lokalen Wissenskultur und Wissenspraktik.“
Jan Weinhold beleuchtet das Heilritual der systemischen Familienaufstellung, bei der psychische Probleme anhand von räumlichen Anordnungen verkörpert und so direkt erfahr- und veränderbar werden. Daher biete sie „eine Perspektive, die über die Dichotomisierung von einerseits scheinbar irrationalem ‚Ritual’ und andererseits vermeintlich rational begründeter ‚Psychotherapie’ oder ‚Beratung’ hinausgeht“.
Michael Hansteins Ausführungen beschäftigen sich mit dem Straßburger Akademietheater zu Beginn des 17. Jahrhunderts als bedeutende protestantische Schulbühne, bei der in Theaterstücken Lerninhalte direkt verarbeitet und der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Gerrit Berenike Hutter verhandelt „Rituelle Aspekte des höfischen Tanzes im Ancien Régime“. Ob in der Tanzstunde, für den Hofball oder das Hofballett, der Tanz nahm eine spezifische und selbstverständliche Rolle in der Erziehung des französischen Adels ein, da er nicht nur für Unterhaltung und Geselligkeit sondern für machtpolitische Zwecke eingesetzt wird. „Mittels des Tanzes und der ihm eigenen Disziplin wurden … auch die Unterordnung durch Regeln und die Einordnung in ein hierarchisches Weltbild verkörpert und weitergegeben“, schreibt Hutter.
Mit „Lernkultur Ballett: Funktion, Be/Deutungen und die Rede von der Performanz“ eröffnet Hanna Walsdorf eine spannende Debatte. Sie stellt ihre Ausführungen der Tanzanthropologie gegenüber, die Tanz als soziales Faktum begreift und kommt zu dem Schluss, dass paradoxerweise beim jesuitischen „Ballet de collège“ im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich genau diese Forderung erfüllt wurde. Das trifft, laut Walsdorfs Argumentation auf das Ballett seit dem 19. Jahrhundert als eine hochprofessionelle, auf technische Brillanz ausgerichtete „Schaukunst auf dem Theater“ nicht mehr zu, da ganz anderer Lerninhalte verfolgt werden. „Performatives Lernen ist dynamisches Lernen, und das im doppelten Sinne. Gerade im Falle des Balletts als bewegter Körperkunst hat der historische Wandel ihre sozialen, ästhetischen und ideengeschichtlichen Bedingtheit die stete Weiterentwicklung begünstigt … Als performative Lernkultur ist das Ballett bzw. der europäische Theatertanz ein Paradebeispiel bewegter – und bewegender Geschichte.“
Den Herausgeberinnen ist mit dem Buch eine umfassende Darstellung von unterschiedlichen tänzerischen Lernkulturen gelungen. Denn die vorliegenden Texte aus dem Blickwinkel der Ethnologie, der Anthropologie, der Tanzwissenschaft, der Psychologie und der Ritualforschung bieten interessante Anregungen auch für die sozialwissenschaftliche Tanzforschung aktueller Tanzpraktiken. Und sie beleuchten auch die aktuell vielfach verhandelte Frage: Wie lernen wir?
Karin Polit, Hanna Walsdorf (Hg.I: "Performative Lernkulturen. Ritual – Tanz – Theater", Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2016.
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