Zwischen Juni 2019 und April 2020 führte die Kulturjournalistin Bettina Trouwborst mit Martin Schläpfer eine Reihe von ausführlichen Gesprächen, die nun im Buch „Mein Tanz, mein Leben“ nachzulesen sind. Der Choreograf und neue Wiener Ballettchef plaudert darin über seine Kindheit und seine keineswegs geradlinig verlaufene Karriere. Er gibt Einblick in sein Verständnis von Kunst, seine Beziehung zu Technologien und seine Erwartungen an Wien.
Die transkribierten Gespräche sind lebendig geblieben, haben keine unnötige Glättung in der Verschriftlichung erfahren. Neun thematische Kapitel, ein Werkverzeichnis und viele großartige Fotos – auf 160 Seiten nimmt Martin Schläpfer als Mensch und als Künstler Konturen an: ein sensibler Hochbegabter, ein nachdenklicher Künstler, ein Schweizer mit Sinn für Humor, der die deutsche Gesprächspartnerin zuweilen vor Verständnisherausforderungen stellt. Und das geht dann so:
„Wenn die beiden [älteren Brüder, Anm.] ins Schwimmbad durften, wurde für mich die Blechgelte unter einen Baum in den Schatten gestellt.“
Trouwborst: „Die was?“
Schläpfer: „— … die Blechgelte, das ist so ein Blechding, eine Wanne, die man mit Wasser füllte zum Baden im Sommer.“
Oder: „Wenn ich mit meinen Brüdern und älteren Kindern beim Wettrennen gewinnen wollte, musste ich schnell anrennen, dem Gegner einen Lähmer [schweizerisch: empfindlicher Schlag] in den Oberschenkel setzen und loslaufen – einholen konnte mich kaum jemand. Diese nicht wirklich lobenswerten Triumphe habe ich genossen.“
Ganz ohne Tricks hat Martin Schläpfer jedoch seine Verdienste als Tänzer erworben. Nach einigen Jahren Training zum Eiskunstläufer wurde er im Alter von 15 Jahren für das Ballett entdeckt. Zwei Jahre später gewann er als „Bester Schweizer“ beim Prix de Lausanne ein Stipendium an der Royal Ballet School in London, um danach als Erster Solist beim Ballett Basel unter Heinz Spoerli zu landen.
Ihn nennt Schläpfer als einzigen auf die Frage nach für ihn wichtige Choreografen – trotz der Leiden und Konflikte, die er in Spoerlis Compagnie durchgemacht hat, vor allem aufgrund des Konkurrenzkampfes. Psychischer Druck, zahlreiche Verletzungen und einige Operationen führten dazu, dass er schließlich seine Tänzerkarriere aufgab. „I was a mess“, sagt er, und: „Es hätte einen Weg gegeben, wenn jemand mit mir ein persönliches Gespräch geführt hätte. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich vielleicht körperlich nicht mehr so leistungsfähig sei, aber mit siebenundzwanzig Jahren immer noch ein toller Tänzer und es auch noch künstlerische Aspekte zu entwickeln gebe jenseits der Top-Leistung. Aber so war es nicht. Stattdessen stürzte ich ab in ein unmögliches, aggressives Verhalten. Ich fühlte mich mit meinem tänzerischen Scheitern alleingelassen. Mittlerweile glaube ich, dass es ein Hilfeschrei war.“
"… durchtränkt mit ‚company spirit‘"
Nach einigen Umwegen und Versuchen eines beruflichen Neustarts, unter anderem mit der Gründung einer Ballettschule in Basel, bekam Martin Schläpfer 1994 das Angebot, Ballettdirektor und Chefchoreograf am Stadttheater Bern zu werden. Er steckte nicht nur seine Zeit, Energie und Kreativität in den Job, sondern auch seine Erbschaft. Die Investition lohnte sich. Fünf Jahre später folgt er der Einladung an das Staatstheater Mainz, wo er das „Mainzer Ballettwunder“ vollbrachte. Zehn Jahr später stellte er das Ballett am Rhein auf völlig neue Beine.
Seine eigene Erfahrung als Tänzer will er im Umgang mit seinem Ensemble nicht wiederholen. „Ich bin keine Vaterfigur. Meine Tänzer genießen eine große Freiheit, eine größere als in manchem modernen Ensemble. — Auch in Wien wird das persönliche Gespräch eine große Rolle spielen. Ich möchte möglichst viele Tänzer erreichen, damit dieser Riesenorganismus sich durchtränkt mit ‚company spirit‘.“
Unter anderem auch, indem er das Training leitet: „… natürlich nicht mehr jeden Tag, wie das noch beim ballettmainz der Fall war. Es gibt samstags eine offene Klasse. Sie richtet sich an fortgeschrittene Erwachsene, die früher Ballett gemacht haben, und an Profitänzer aus der Umgebung. Aber es kommen auch viele meiner Tänzer dazu, weil sie da ohne Company-Druck in Ruhe an sich arbeiten können. Es ist ein bisschen wie in New York damals in den Achtzigern, ich habe diese offenen Klassen bei großartigen Lehrern wie David Howard und Maggie Black und Gelsey Kirkland geliebt. Mit diesen Workshops habe ich in Mainz begonnen. Sie sind ein Fenster des Opernbetriebs nach außen. Aber ich gebe sie auch für mich persönlich, weil ich Erwachsene unglaublich gerne unterrichte … ich werde das auch in Wien machen und freue mich darauf. Es wäre wunderbar, den großen Nurejew-Saal für eine offene Klasse am Samstag zu öffnen. Da wird man als Ballettchef anfassbarer und kreiert dadurch ein direkteres Ballettverständnis.“
"Ein Ballett darf hadern"
Dieses Ballettverständnis, das ist bei Martin Schläpfer keineswegs einfach. Das Buch widmet sein längstes Kapitel dem Thema „Tanzen und Choreografieren“. Er kann bei diesem Thema weit ausholen, aber auch sehr prägnang formulieren: „Ein Ballett darf für mich hadern, unbequem sein, aber es sollte immer auch aus der Realität hinausweisen, das Poetische suchen. Ich mag nicht so gerne Ballette, die uns nur als moderne, coole Menschen zeigen, also den Tänzer als Menschen seiner Generation – sie verlassen mich schnell.“
Bei der Förderung von Tänzertalenten ist etwa Jörg Weinöhl ein Beispiel, der bis letztes Jahr Ballettdirektor an der Grazer Oper war, oder seine Musen Marlúcia do Amaral und Marcos Menha, der ab September als Erster Solist in Wien tanzen wird. „ Marcos – es ist eine große Freude, wie er sich entwickelt hat! Er hat eine unglaubliche Eleganz und einen wunderbar natürlichen ‚machoism‘ … Obwohl schon Mitte dreißig, ist er noch immer hungrig.“
"Ich muss in Wien nicht glücklich werden"
Martin Schläpfer kommt als abgeklärter Künstler nach Wien. Als überaus erfolgreicher Ballettdirektor und Choreograf kann er sich eigentlich ganz unbefangen der neuen Herausforderung stellen.
„Ich muss in Wien nicht glücklich werden. Ich bin auch in Bern und Mainz nicht glücklich gewesen und in Düsseldorf auch nicht. Ich bin glücklich im Beruf und brauche keinen bestimmten Ort, um erfüllt zu sein. Ich bin auch dankbar für alles. Ich glaube, als Künstler kommst du nie an. Du bist immer im Feld der nächsten Aufgabe und Fragestellung. — Jetzt habe ich erst einmal meinen Vertrag möglichst gut zu erfüllen. Wien als ein wirklich wichtiger Ort für den Tanz – das wäre mein Traum. Darunter setze ich nicht an.“
Was Martin Schläpfer privat berührt, kommt in dem Buch auch immer wieder zur Sprache. Man erfährt vom Unvermögen eine Liebesbeziehung mit seiner Kunst zu vereinen, seiner Naturverbundenheit, von seinen beiden 17-jährigen Katzen, und seinem Wunsch, eine Appenzeller Sennenhündin zu haben. Doch dieser Wunsch muss warten, ebenso wie das Haus im Tessin, das er aus einem Stall für seinen Alterswohnsitz gebaut hat. „Das hängt davon ab, wie lange ich diese körperlichen Belastungen aushalte. In dieser Hinsicht bin ich überhaupt nicht romantisch. Es kann jederzeit sein, dass sich das ›too much‹ von so vielen Dekaden irgendwann bemerkbar macht. Mental habe ich mehr Kraft denn je. Aber der Körper, die Gelenke machen vielleicht eines Tages nicht mehr mit.“
Aus Facebook, Twitter und Social Media Plattformen wird man Martin Schläpfer umsonst suchen, privat hat er mit den neuen Technologien eher nichts am Hut, allerdings hat er ein ein „spannendes, transmediales Filmprojekt“ in petto: „Die Hamburger Filmemacherin Susanne Stenner wird, wenn ich in Wien arbeite, regelmäßig kleine Episoden ins Internet stellen, etwa dreißig bis fünfzig insgesamt, auf allen digitalen Kanälen. So entsteht eine Reibung mit mir und meiner Arbeit, weil ich mich auf diesen Plattformen wie gesagt sonst nicht bewege. Und auch, weil ich ja nur mit dem Körper und der Musik erforsche, ob diese Kunst noch zeitgemäß ist.“
Apropos Musik: Seine erste Saison in Wien wird Schläpfer übrigens mit „Absturzmusik“ beginnen.
„Was, bitte, ist denn Absturzmusik?“, fragt Bettina Troubrowst.
„Ich meine Musik, die so schwierig, so groß, so meisterlich ist, dass das Ballett dagegen abstürzen könnte. Und damit einfach auch gefährlich ist.“ Und dazu zählt eben auch „das Brahms-Requiem oder ein Mahler“.
PS: Eine Ausstellung und ein Film
Das Wiener Publikum kann sich nicht nur mit dem vorliegenden Buch auf den neuen Ballettchef einstimmen, denn zur Zeit zeigt die Deutsche Oper am Rhein in Kooperation mit dem Deutschen Tanzarchiv Köln eine Retrospektive über das elfjährige, choreografische Schaffen Martin Schläpfer in Düsseldorf und Duisburg. Durch die vorzeitige Saisonbeendigung wurde aus dem analogen Konzept ein digitales. Unter dem Titel „Von den Kraftfeldern zwischen Mensch und Körper“ präsentiert sich die Ausstellung in einer Kombination von Fotografien von Gert Weigelt und Zitaten von Martin Schläpfer, um das choreographisches Denken sichtbar zu machen: www.kraftfeld-mensch-koerper.de
Statt der geplanten Abschiedsgala verabschiedet sich die Deutsche Oper am Rhein mit einem Film. „b.ye“ ist eine gleichermaßen kurzweilige wie tiefgründige Collage aus Tanz und Wortbeiträgen, eine kleine Erinnerungsreise mit Martin Schläpfer durch elf Spielzeiten und ein sehr persönlicher Abschied von dessen Wirkungsstätten in Düsseldorf und Duisburg. Eine Tanzpremiere der besonderen Art trägt Remus Şucheană bei, der unter geltenden Abstandsregeln mit Tänzerinnen und Tänzern der Compagnie drei kurze Uraufführungen „Living Room 1“, „Sarabande“ und „Living Room 2“ kreiert hat, die in dem Film erstmals zu sehen sind. Bis 31. August auf operamrhein.de abrufbar
„Mein Tanz, mein Leben. Martin Schläpfer im Gespräch mit Bettina Trouwborst“, Henschel Verlag, Leipzig, 2020
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