Was mit einem Nachlass beginnt, entwickelt sich zu einer Methodenforschung über den Umgang mit autobiografischem Material von Künstler*innen. Das deutsche Tanzarchiv Köln hat Yvonne Georgis Tagebuchnotizen während ein USA-Tournee veröffentlicht. In „Bewegungsszenarien der Moderne. Theorien und Schreibpraktiken physischer und emotionaler Bewegung“ stellt Herausgeberin Rita Rieger Bewegung mit einem tranzdisziplinären Ansatz zur Diskussion.
Yvonne Georgi
Stichwortartig hält Yvonne Georgi (1903-1975) die Ereignisse und Begegnungen während ihrer USA-Tournee 1929 bis 1931 mit Harald Kreutzberg in beinahe täglichen Eintragungen fest, oft Klatsch und Tratsch wie: „Harald mit unsympatischem, wie sich dann herausstellte Tilly Losch liebenden, schwulen Mann ab zum Lunch.“ Die Eintragungen sind mit zahlreichen Fußnoten gespickt und mit anderen Quellen überprüft. So meinte Georgi etwa, bei einer amerikanischen Agentin Elizabeth Marbury besonderen Eindruck hinterlassen zu haben: „Toller Erfolg bei der Marbury – mich findet sie schön – die Losch ist erledigt.“ (Die österreichische Tänzerin Tilly Losch war vor Georgi Tanzpartnerin von Harald Kreutzberg, siehe auch Wiener Tanzgeschichte "Ein Brief von Tilly Losch".) Doch die Memoiren eines anderen Zeitzeugen weisen eher auf das Gegenteil hin. Der Manager Charles L. Wagner schreibt: Marbury „decided to drop her“.
Abgesehen von historischen Daten, die mit anderen Belegen zu überprüfen sind, bieten die Trivia in den Tagebüchern Anregung für drei MA-Student*innen der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, wie man mit derartigen Quellen wissenschaftlich umgeht. Unter der Supervision von Yvonne Hardt untersucht Anaïs Emilia Rödel „Biographisches zwischen Autofiktion und historischer Narration“. Luke Aaron Forbes‘ Arbeit ist eine spannende Gegenüberstellung zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, wenn er über die „Starpersönlichkeit von Yvonne Georgi in Presse- und Selbstdarstellungen“ recherchiert. In seinem Beitrag in diesem Buch geht er auch noch einmal besonders auf den Konflikt zwischen Marbury ein und untersucht die der Kritik zugrunde liegenden kulturellen Codes. „Konstruktion des Alltäglichen“ nennt Dwayne Holliday ihren Text, in dem sie die Tagebucheintragungen von Yvonne Georgi mit Beiträgen in sozialen Medien vergleicht.
Ein weiterer Aspekt dieser Tagebücher wird nur am Rande erwähnt: die künstlerischen Arbeitskontexte, die das damals noch vorherrschende Bild des Künstlers als Genie konterkarieren. Georgi spricht nicht über ihre Kunst, sondern über Agenten, Manager, Kollegen, Mäzene und Personen, die sie besonders unterstützt haben. Hier fällt einem zum Beispiel das Art-Worlds-Konzept ein, das Howard S. Becker fünfzig Jahre später als Grundlage der Kunstproduktion identifiziert hat. Der Kunstsoziologe vertritt die Ansicht, dass Kunstwerke keine Leistung von Einzelpersonen, also Künstler*innen mit besonderen Begabungen, sondern vielmehr das Produkt der Zusammenarbeit aller Personen der Art World sind. Unter dieser Perspektive, die Becker anhand der Musik und Filmindustrie formulierte, ließe sich auf Grundlage von Georgis Schriften auch das Tanzschaffen des 20. Jahrhunderts verhandeln, und umgekehrt die Tanzwissenschaft auf die Kunst- und Kultursoziologie ausdehnen.
Auch wenn sich die Bedeutung der Veröffentlichung dieser banal daher kommenden Tagebucheintragungen auf den ersten Blick nicht erschließt, so bieten sie im Kontext, in den sie eingebunden sind, ein inspirierende Quellenforschung. Weitere Dokumente in diesem Band sind transkribierte Tonbandaufnahmen aus den 1970er Jahren, als Yvonne Georgi Ballettdirektorin am Opernhaus Hannover bzw. Professorin an der Hochschule für Musik und Tanz Hannover war: auf einer spricht Georgi über ihre Erinnerungen, das andere Band enthält ein Gespräch mit den Tanzautor und -kritiker Horst Koegler. Hinreißende Fotos und Original-Pressemeldungen machen dieses Buch darüberhinaus visuell überaus attraktiv.
Frank-Manuel Peter & Yvonne Hardt (Hg.): „Yvonne Georgi: Tagebuch und Dokumente zu Tanztourneen mit Harald Kreutzberg (1929–1931). Eine andere Recherche zu den Potentialen einer kritischen Nachlassforschung“, Wienand Verlag Köln, 2019
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„Bewegungsszenarien der Moderne“
Bewegung als zentrales Element künstlerischen Schaffens hat sich im 20. und 21. Jahrhundert in allen Sparten manifestiert. Oskar Schlemmer, Schöpfer des „Triadischen Balletts“ schrieb etwa 1925 in sein Tagebuch: „Ich bin zu modern, um Bilder zu malen“. Bildende KünstlerInnen wie Marina Abramovic oder die Wiener Aktionist*innen wählten die Performance als das Medium ihrer Wahl. Doch die Auseinandersetzung geht im vorliegenden Buch „Bewegungsszenarien der Moderne. Theorien und Schreibpraktiken physischer und emotionaler Bewegung“ weit über diese offensichtlichen Zusammenhänge hinaus.
Die Herausgeberin Rita Rieger leitet das Buch mit „Methodologischen Überlegungen für eine literaturwissenschaftliche Bewegungsanalyse“ ein. Sie versammelt eine illustre Runde von zwölf Autor*innen aus unterschiedlichen Wissensdisziplinen, die Bewegung als grundlegenden Begriff der Moderne erforschen. Hier wird Schreiben über Bewegung im Kontext von Tanz, Fotografie und Theater Medien analysiert.
Zum Beispiel bezeichnete der Philosoph Paul Valéry Bewegung als „Mythologie der Moderne“, ein Zitat, das Walburga Hülk als Titel ihres Essays im vorliegenden Buch gewählt hat. Vor einigen Jahren hat Julia Bührle ihre faszinierende Doktorarbeit „Literatur und Tanz: Die Choreographische Adaption literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute“ in einem transdisziplinären Ansatz von Literatur- und Tanzwissenschaften als Buch vorgelegt. Hier schreibt sie nun über „Bewegungsszenarien der Ballettreform des Literaturballetts (1760 / 1960)“.
Die Publikation enstand im Rahmen des von FWF geförderten Elise-Richter-Projektes „Poetiken der Bewegung. Tanztexte 1800, 1900, 2000“ an der Universität Graz, an der die Herausgeberin mitarbeitet. Unter den beitragenden Akademiker*innen haben daher eine Reihe weiterer Autor*innen ihre Basis in Graz. So steht der Text der Kunsthistorikerin Sabine Flach in Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt „Moving in Every Direction“ (ein Zitat von Gertrude Stein) und diskutiert Kunst zwischen Performance und Skulptur anhand der Beispiele Sasha Waltz und Tino Seghal. Ingrid Pfandl-Buchegger (Institut für Anglistik) und Gudrun Rottensteiner (Kunstuniversität Graz) untersuchen die Repräsentation physischer und emotionaler Bewegung in Jane Austens Roman „Pride and Prejudice“. Kirsten Maar von der Freien Universität Berlin schreibt über „Szenarien des Entwerfens. Bewegung und Affizierung bei William Forsythe und Meg Stuart“.
Die Beiträge zu „Bewegung zwischen Szene und Szenarien“ werden ganz im Sinne traditioneller akademisch-philosophischer Abhandlungen rein textlich und ohne visuelles Material dargestellt.
Riat Rieger (Hg.): „Bewegungsszenarien der Moderne. Theorien und Schreibpraktiken physischer und emotionaler Bewegung“, Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2021
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