Das Unerhörteste im Tanz. Manche Zeitungen schrieben, es gäbe nur drei Tänzerinnen: Anna Pavlova, Karsavina und Valeska Gert. Für ihre Gemeinde war sie die Einzige. Und für manche war sie gar keine Tänzerin.
Valeska Gert, als Tänzerin, Schauspielerin und Kabarettistin eine Berühmtheit im Berlin der 20er und frühen 30er Jahre, verfasste „Die Bettlerbar von New York“ 1948, während sie in Zürich auf ihre Einreise nach Berlin wartete. Eine Erinnerung an ihre Kindheit und Jugend in Berlin und die Jahre in der Emigration – Gert war Jüdin –, wo sie sich von der Tellerwäscherin und vom Aktmodell zur Chefin der „Beggar Bar“ etablierte. Eine klassiche Erfolgsstory, hinter der ein knochenharter Job steckte. Gert stattete ein halb verrottetes Kellerlokal mit zusammengebetteltem und selbst gebasteltem Interieur aus und schlug sich in ihrem „Dschungel“ mit der Polizei, Gangstern, diebischen Kellnern und unzuverlässigen wie kapriziösen Künstlern herum, jede Nacht auf der „...Jagd nach Menschen, Erfolg und Geld“.
Das Wichtigste für sie war, endlich wieder selbst auf der Bühne zu stehen zu können. Dort fühlte sie sich im Zentrum ihrer Kraft, berauscht vom Glück, eins mit dem Publikum. In ihren radikalen Tanzpantomimen verdichtete sie Sujets des alltäglichen Lebens – „Alte Jungfer“, „Kupplerin“, „Heuchlerin“, „Pianistin“, „Politische Versammlung“ – zu deren kristallklarer Essenz. Stellte beispielsweise in ihrem Solo „Canaille“ eine Prostituierte samt deren Orgasmus dar, durchlebte in der Pantomime „Tod“ den Schmerz, die Starre und schließlich das Hinweggleiten des Lebens. Zu ihrem Repertoire gehörten düstere Tänze, aber auch heitere, wie Tango, Cancan oder Spanischer Tanz. Sie brachte das Unerhörteste auf die Bühne, ungeschminkt, skandalös und unvergleichlich mutig!
Schnörkellos und direkt wie ihr Tanz ist auch ihre Sprache. Gert schildert Kindheitserinnerungen ohne zu psychologisieren, behält Reflexionen meist für sich, so dass man sich fragt, wie sich diese wohl behütete Kaufmannstochter zu einer derart eigensinnigen Künstlerin und Kämpferin entpuppen konnte. Mit an Überheblichkeit grenzendem Selbstbewusstsein urteilt sie über andere Tänzer ihrer Zeit: Alexander Sacharoff tanze „preziös“, Isodora Duncans „klassischem“ Tanz fehle die innere Wahrheit, Mary Wigman, ihrer großen Kontrahentin, sei es es lediglich gelungen, „...das Klare zu verwirren, anstatt das Verwirrte zu klären“.
Nichts, rein gar nichts schien die Gert zu schrecken, sie kämpfte, vielleicht auch geschützt durch ihre Naivität, wie eine Löwin um das Überleben ihrer „Beggar Bar“, die sich nach und nach zum Szenetreff schlechthin entwickelte. Frank Wedekinds Tochter Kadidja sang bei ihr, Tennessee Williams rezitierte seine Gedichte und verdingte sich als Aushilfskellner, Judith Malina, die spätere Gründerin des Living Theatre, arbeitete als Garderobiere. Theater- und Filmgrößen wie Billie Holliday, Judy Garland, Simone Simon und Mary Brian zählten zu ihren Gästen.
1945 verfing sich Valeska Gert in den Fangstricken behördlicher Auflagen, man entzog ihr die Kabarettlizenz. Sie sah ihr Werk vernichtet, sehnte sich nach Kriegsende zudem zurück nach Berlin, wo sie sich verwurzelt fühlte. In Provincetown, an der Spitze von Cape Cod, eröffnete sie nochmals eine kleine Bühne, „Valeska's“, die sie allerdings nach wiederholten Intrigen von Kolleginnen und Dorfbewohnern und daraus resultierenden Querelen mit dem Gericht nach einem Sommer schloss.
Mit dem Wunsch, neue, grotesk-fantastische Filme zu gestalten, kehrte Valeska Gert 1947 nach Deutschland zurück. Sie wusste, dass das Leben kurz und ein Kampf ist, dass sie wieder am Anfang stand. Sie fühlte sich gewappnet.Der L.S.D. Verlag legte kürzlich nach mehr als einem halben Jahrhundert Valeska Gerts „Bettlerbar von New York“ neu auf, versehen mit einem erhellenden Nachwort von Prof. Frank-Manuel Peter, Leiter des Deutschen Tanzarchivs Köln und Gert-Biograf, das Appetit macht, tiefer in das Leben dieser Künstlerin einzutauchen.
Valeska Gert: Die Bettlerbar von New York, L.S.D. Verlag 2012, 222 Seiten
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